Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


nichts Materielles mehr in sich fassen. Ob es gleich ganz gewiß ist, daß sich in den gröbern Zwischenräumen der Körper vielerley fremdartige Materien aufhalten, so läßt sich doch noch fragen, ob nicht die allerfeinsten Zwischenräume von aller Materie frey seyn müssen? Man sieht sich sogar gezwungen, dies anzunehmen. Denn da die Erfahrung lehrt, daß es Körper von verschiedner Dichtigkeit giebt, oder daß in einem Körper die Theile näher bey einander sind, als im andern, so solgt daraus von selbst der Begrif von Abstand der Theile ohne vollkommene Berührung, d. i. von zerstreutem leeren Raume, ohne welchen auch überdies gar keine Bewegung würde statt finden können. Es scheint also keine absolute, wohl aber eine zerstreute Leere vorhanden zu seyn.

Die Epikuräer vertheidigten den Begrif der Leere in seinem ausgedehntesten Umfange: Lucrez bringt verschiedene Beweise vor, wovon sich die meisten auf die zerstreute Leere beziehen (De rer. nat. L. I. v. 335. 370. 385.): die Peripatetiker hingegen schrieben der Natur eine Abneigung gegen die Leere (horror s. fuga vacui) zu, aus der sie, als aus einer verborgnen Qualität, verschiedene physikalische Erklärungen herleiteten.

Descartes (Princip. philos. P. II. §. 10 sqq.) läugnet schlechterdings alle Leere in der Körperwelt, die er auf allen Seiten unbegrenzt, und so vollkommen mit Materie ausgefüllt annimmt, daß nirgends ein Raum weder im Ganzen noch zwischen den Theilen der Körper, leer bleibe.

Dies ist sein absolut voller Raum (Plein absolu), der einen Hauptgrundsatz seines Systems ausmacht. Er sieht dieses als eine Folge des Begrifs vom Körper an, den er für völlig einerley mit dem Begriffe von Ausdehnung hält. "Wenn man fragt, sagt er, was geschehen würde, "wenn Gott alle Materie, die in einem Gefäße enthalten ist, "wegnähme, und keine andere an ihre Stelle kommen ließe, "so ist die Antwort: die Wände des Gefäßes würden da"durch in Berührung kommen. Denn wenn zwischen zween "Körpern Nichts liegt, so müssen sie sich berühren. Es "ist offenbarer Widerspruch, zu sagen, es sey ein Abstand


nichts Materielles mehr in ſich faſſen. Ob es gleich ganz gewiß iſt, daß ſich in den groͤbern Zwiſchenraͤumen der Koͤrper vielerley fremdartige Materien aufhalten, ſo laͤßt ſich doch noch fragen, ob nicht die allerfeinſten Zwiſchenraͤume von aller Materie frey ſeyn muͤſſen? Man ſieht ſich ſogar gezwungen, dies anzunehmen. Denn da die Erfahrung lehrt, daß es Koͤrper von verſchiedner Dichtigkeit giebt, oder daß in einem Koͤrper die Theile naͤher bey einander ſind, als im andern, ſo ſolgt daraus von ſelbſt der Begrif von Abſtand der Theile ohne vollkommene Beruͤhrung, d. i. von zerſtreutem leeren Raume, ohne welchen auch uͤberdies gar keine Bewegung wuͤrde ſtatt finden koͤnnen. Es ſcheint alſo keine abſolute, wohl aber eine zerſtreute Leere vorhanden zu ſeyn.

Die Epikuraͤer vertheidigten den Begrif der Leere in ſeinem ausgedehnteſten Umfange: Lucrez bringt verſchiedene Beweiſe vor, wovon ſich die meiſten auf die zerſtreute Leere beziehen (De rer. nat. L. I. v. 335. 370. 385.): die Peripatetiker hingegen ſchrieben der Natur eine Abneigung gegen die Leere (horror ſ. fuga vacui) zu, aus der ſie, als aus einer verborgnen Qualitaͤt, verſchiedene phyſikaliſche Erklaͤrungen herleiteten.

Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 10 ſqq.) laͤugnet ſchlechterdings alle Leere in der Koͤrperwelt, die er auf allen Seiten unbegrenzt, und ſo vollkommen mit Materie ausgefuͤllt annimmt, daß nirgends ein Raum weder im Ganzen noch zwiſchen den Theilen der Koͤrper, leer bleibe.

Dies iſt ſein abſolut voller Raum (Plein abſolu), der einen Hauptgrundſatz ſeines Syſtems ausmacht. Er ſieht dieſes als eine Folge des Begrifs vom Koͤrper an, den er fuͤr voͤllig einerley mit dem Begriffe von Ausdehnung haͤlt. ”Wenn man fragt, ſagt er, was geſchehen wuͤrde, ”wenn Gott alle Materie, die in einem Gefaͤße enthalten iſt, ”wegnaͤhme, und keine andere an ihre Stelle kommen ließe, ”ſo iſt die Antwort: die Waͤnde des Gefaͤßes wuͤrden da”durch in Beruͤhrung kommen. Denn wenn zwiſchen zween ”Koͤrpern Nichts liegt, ſo muͤſſen ſie ſich beruͤhren. Es ”iſt offenbarer Widerſpruch, zu ſagen, es ſey ein Abſtand

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="2">
            <p><pb facs="#f0874" xml:id="P.2.868" n="868"/><lb/>
nichts Materielles mehr in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en. Ob es gleich ganz gewiß i&#x017F;t, daß &#x017F;ich in den gro&#x0364;bern Zwi&#x017F;chenra&#x0364;umen der Ko&#x0364;rper vielerley fremdartige Materien aufhalten, &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich doch noch fragen, ob nicht die allerfein&#x017F;ten Zwi&#x017F;chenra&#x0364;ume von aller Materie frey &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en? Man &#x017F;ieht &#x017F;ich &#x017F;ogar gezwungen, dies anzunehmen. Denn da die Erfahrung lehrt, daß es Ko&#x0364;rper von ver&#x017F;chiedner Dichtigkeit giebt, oder daß in einem Ko&#x0364;rper die Theile na&#x0364;her bey einander &#x017F;ind, als im andern, &#x017F;o &#x017F;olgt daraus von &#x017F;elb&#x017F;t der Begrif von Ab&#x017F;tand der Theile ohne vollkommene Beru&#x0364;hrung, d. i. von <hi rendition="#b">zer&#x017F;treutem leeren Raume,</hi> ohne welchen auch u&#x0364;berdies gar keine Bewegung wu&#x0364;rde &#x017F;tatt finden ko&#x0364;nnen. Es &#x017F;cheint al&#x017F;o keine <hi rendition="#b">ab&#x017F;olute,</hi> wohl aber eine <hi rendition="#b">zer&#x017F;treute Leere</hi> vorhanden zu &#x017F;eyn.</p>
            <p>Die Epikura&#x0364;er vertheidigten den Begrif der Leere in &#x017F;einem ausgedehnte&#x017F;ten Umfange: <hi rendition="#b">Lucrez</hi> bringt ver&#x017F;chiedene Bewei&#x017F;e vor, wovon &#x017F;ich die mei&#x017F;ten auf die zer&#x017F;treute Leere beziehen <hi rendition="#aq">(De rer. nat. L. I. v. 335. 370. 385.):</hi> die Peripatetiker hingegen &#x017F;chrieben der Natur eine <hi rendition="#b">Abneigung gegen die Leere</hi> <hi rendition="#aq">(horror &#x017F;. fuga vacui)</hi> zu, aus der &#x017F;ie, als aus einer verborgnen Qualita&#x0364;t, ver&#x017F;chiedene phy&#x017F;ikali&#x017F;che Erkla&#x0364;rungen herleiteten.</p>
            <p><hi rendition="#b">Descartes</hi><hi rendition="#aq">(Princip. philo&#x017F;. P. II. §. 10 &#x017F;qq.)</hi> la&#x0364;ugnet &#x017F;chlechterdings alle Leere in der Ko&#x0364;rperwelt, die er auf allen Seiten unbegrenzt, und &#x017F;o vollkommen mit Materie ausgefu&#x0364;llt annimmt, daß nirgends ein Raum weder im Ganzen noch zwi&#x017F;chen den Theilen der Ko&#x0364;rper, leer bleibe.</p>
            <p>Dies i&#x017F;t &#x017F;ein <hi rendition="#b">ab&#x017F;olut voller Raum</hi> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">(Plein ab&#x017F;olu),</hi></hi> der einen Hauptgrund&#x017F;atz &#x017F;eines Sy&#x017F;tems ausmacht. Er &#x017F;ieht die&#x017F;es als eine Folge des Begrifs vom Ko&#x0364;rper an, den er fu&#x0364;r vo&#x0364;llig einerley mit dem Begriffe von Ausdehnung ha&#x0364;lt. &#x201D;Wenn man fragt, &#x017F;agt er, was ge&#x017F;chehen wu&#x0364;rde, &#x201D;wenn Gott alle Materie, die in einem Gefa&#x0364;ße enthalten i&#x017F;t, &#x201D;wegna&#x0364;hme, und keine andere an ihre Stelle kommen ließe, &#x201D;&#x017F;o i&#x017F;t die Antwort: die Wa&#x0364;nde des Gefa&#x0364;ßes wu&#x0364;rden da&#x201D;durch in Beru&#x0364;hrung kommen. Denn wenn zwi&#x017F;chen zween &#x201D;Ko&#x0364;rpern Nichts liegt, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich beru&#x0364;hren. Es &#x201D;i&#x017F;t offenbarer Wider&#x017F;pruch, zu &#x017F;agen, es &#x017F;ey ein Ab&#x017F;tand<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[868/0874] nichts Materielles mehr in ſich faſſen. Ob es gleich ganz gewiß iſt, daß ſich in den groͤbern Zwiſchenraͤumen der Koͤrper vielerley fremdartige Materien aufhalten, ſo laͤßt ſich doch noch fragen, ob nicht die allerfeinſten Zwiſchenraͤume von aller Materie frey ſeyn muͤſſen? Man ſieht ſich ſogar gezwungen, dies anzunehmen. Denn da die Erfahrung lehrt, daß es Koͤrper von verſchiedner Dichtigkeit giebt, oder daß in einem Koͤrper die Theile naͤher bey einander ſind, als im andern, ſo ſolgt daraus von ſelbſt der Begrif von Abſtand der Theile ohne vollkommene Beruͤhrung, d. i. von zerſtreutem leeren Raume, ohne welchen auch uͤberdies gar keine Bewegung wuͤrde ſtatt finden koͤnnen. Es ſcheint alſo keine abſolute, wohl aber eine zerſtreute Leere vorhanden zu ſeyn. Die Epikuraͤer vertheidigten den Begrif der Leere in ſeinem ausgedehnteſten Umfange: Lucrez bringt verſchiedene Beweiſe vor, wovon ſich die meiſten auf die zerſtreute Leere beziehen (De rer. nat. L. I. v. 335. 370. 385.): die Peripatetiker hingegen ſchrieben der Natur eine Abneigung gegen die Leere (horror ſ. fuga vacui) zu, aus der ſie, als aus einer verborgnen Qualitaͤt, verſchiedene phyſikaliſche Erklaͤrungen herleiteten. Descartes (Princip. philoſ. P. II. §. 10 ſqq.) laͤugnet ſchlechterdings alle Leere in der Koͤrperwelt, die er auf allen Seiten unbegrenzt, und ſo vollkommen mit Materie ausgefuͤllt annimmt, daß nirgends ein Raum weder im Ganzen noch zwiſchen den Theilen der Koͤrper, leer bleibe. Dies iſt ſein abſolut voller Raum (Plein abſolu), der einen Hauptgrundſatz ſeines Syſtems ausmacht. Er ſieht dieſes als eine Folge des Begrifs vom Koͤrper an, den er fuͤr voͤllig einerley mit dem Begriffe von Ausdehnung haͤlt. ”Wenn man fragt, ſagt er, was geſchehen wuͤrde, ”wenn Gott alle Materie, die in einem Gefaͤße enthalten iſt, ”wegnaͤhme, und keine andere an ihre Stelle kommen ließe, ”ſo iſt die Antwort: die Waͤnde des Gefaͤßes wuͤrden da”durch in Beruͤhrung kommen. Denn wenn zwiſchen zween ”Koͤrpern Nichts liegt, ſo muͤſſen ſie ſich beruͤhren. Es ”iſt offenbarer Widerſpruch, zu ſagen, es ſey ein Abſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/874
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 868. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/874>, abgerufen am 22.11.2024.