Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.
Locke (Essay concerning human und erstanding. B. II. ch. 9. § 8.) erwähnt die von Molyneux aufgeworfene Frage, ob ein Blinder, der durchs Gefühl einen Würfel und eine Kugel unterscheiden gelernt hat, beyde durch den bloßen Anblick unterscheiden würde, wenn er sein Gesicht bekäme. Molineux sowohl, als Locke, beantworten diese Frage verneinend, weil die durchs Gefühl erhaltenen Vorstellungen mit den Gesichtsempfindungen in keiner natürlichen und nothwendigen Verbindung stehen, sondern blos durch Uebung, welche hier fehlen würde, verglichen werden. D. Jurin (in Smith's Lehrbegrif der Optik, der deutsch. Uebers. S. 395.) erinnert doch, der Blindgewesene werde bey genauer Betrachtung bemerken, daß die Kugel das Gesicht von allen Seiten her auf gleiche Art rühre, der Würfel hingegen anders aussehe, wenn man ihn aus andern Stellen betrachte. Da nun das Gefühlähnliche Merkmale von Kugel und Würfel angebe, so werde er hieraus den Unterschied finden können, wenn man ihm nur sage, daß das eine eine Kugel, das andere ein Würfel sey, und ihm verstatte, um beyde herum zu gehen. Eben so hat auch Saunderson selbst hievon geurtheilt, und Priestley glaubt, der Blindgewesene werde zwar einen Kreis vom Quadrate, aber nicht das Quadrat vom Würfel, oder den Kreis von der Kugel, unterscheiden können. Die Erlernung des Sehens durch Vergesellschaftung der Begriffe erklärt nun sehr leicht eine Frage, deren Beantwortung Manchem zu schaffen gemacht hat, nemlich: warum wir die Gegenstände aufrecht sehen, da doch ihr Bild im Auge umgekehrt ist? Man darf sich nur erinnern, daß wir nicht das Bild sehen, und daß unsere Begriffe von Oben und Unten, von rechter und linker Seite, vom Aufrechten und Umgekehrten rc. relativ sind, indem sie sich auf die Lagen der Dinge gegen Kopf und Füße, gegen beyde Hände u. s. w. beziehen. Diese Lagen bleiben auch im Bilde noch dieselben: was gegen die Füße gekehrt ist, bildet sich auch im Auge gegen den Ort zu ab, wo sich die
Locke (Eſſay concerning human und erſtanding. B. II. ch. 9. § 8.) erwaͤhnt die von Molyneux aufgeworfene Frage, ob ein Blinder, der durchs Gefuͤhl einen Wuͤrfel und eine Kugel unterſcheiden gelernt hat, beyde durch den bloßen Anblick unterſcheiden wuͤrde, wenn er ſein Geſicht bekaͤme. Molineux ſowohl, als Locke, beantworten dieſe Frage verneinend, weil die durchs Gefuͤhl erhaltenen Vorſtellungen mit den Geſichtsempfindungen in keiner natuͤrlichen und nothwendigen Verbindung ſtehen, ſondern blos durch Uebung, welche hier fehlen wuͤrde, verglichen werden. D. Jurin (in Smith's Lehrbegrif der Optik, der deutſch. Ueberſ. S. 395.) erinnert doch, der Blindgeweſene werde bey genauer Betrachtung bemerken, daß die Kugel das Geſicht von allen Seiten her auf gleiche Art ruͤhre, der Wuͤrfel hingegen anders ausſehe, wenn man ihn aus andern Stellen betrachte. Da nun das Gefuͤhlaͤhnliche Merkmale von Kugel und Wuͤrfel angebe, ſo werde er hieraus den Unterſchied finden koͤnnen, wenn man ihm nur ſage, daß das eine eine Kugel, das andere ein Wuͤrfel ſey, und ihm verſtatte, um beyde herum zu gehen. Eben ſo hat auch Saunderſon ſelbſt hievon geurtheilt, und Prieſtley glaubt, der Blindgeweſene werde zwar einen Kreis vom Quadrate, aber nicht das Quadrat vom Wuͤrfel, oder den Kreis von der Kugel, unterſcheiden koͤnnen. Die Erlernung des Sehens durch Vergeſellſchaftung der Begriffe erklaͤrt nun ſehr leicht eine Frage, deren Beantwortung Manchem zu ſchaffen gemacht hat, nemlich: warum wir die Gegenſtaͤnde aufrecht ſehen, da doch ihr Bild im Auge umgekehrt iſt? Man darf ſich nur erinnern, daß wir nicht das Bild ſehen, und daß unſere Begriffe von Oben und Unten, von rechter und linker Seite, vom Aufrechten und Umgekehrten rc. relativ ſind, indem ſie ſich auf die Lagen der Dinge gegen Kopf und Fuͤße, gegen beyde Haͤnde u. ſ. w. beziehen. Dieſe Lagen bleiben auch im Bilde noch dieſelben: was gegen die Fuͤße gekehrt iſt, bildet ſich auch im Auge gegen den Ort zu ab, wo ſich die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0028" xml:id="P.4.18" n="18"/><lb/> durch eigne Vortheile half, welche von <hi rendition="#b">Clemm</hi> (Mathematiſches Lehrbuch. Stuttg. 1748. 8. S. 143.) erzaͤhlt werden.</p> <p><hi rendition="#b">Locke</hi> (<hi rendition="#aq">Eſſay concerning human und erſtanding. B. II. ch. 9. § 8.</hi>) erwaͤhnt die von <hi rendition="#b">Molyneux</hi> aufgeworfene Frage, ob ein Blinder, der durchs Gefuͤhl einen Wuͤrfel und eine Kugel unterſcheiden gelernt hat, beyde durch den bloßen Anblick unterſcheiden wuͤrde, wenn er ſein Geſicht bekaͤme. <hi rendition="#b">Molineux</hi> ſowohl, als <hi rendition="#b">Locke,</hi> beantworten dieſe Frage verneinend, weil die durchs Gefuͤhl erhaltenen Vorſtellungen mit den Geſichtsempfindungen in keiner natuͤrlichen und nothwendigen Verbindung ſtehen, ſondern blos durch Uebung, welche hier fehlen wuͤrde, verglichen werden. <hi rendition="#b">D. Jurin</hi> (in <hi rendition="#b">Smith's</hi> Lehrbegrif der Optik, der deutſch. Ueberſ. S. 395.) erinnert doch, der Blindgeweſene werde bey genauer Betrachtung bemerken, daß die Kugel das Geſicht von allen Seiten her auf gleiche Art ruͤhre, der Wuͤrfel hingegen anders ausſehe, wenn man ihn aus andern Stellen betrachte. Da nun das Gefuͤhlaͤhnliche Merkmale von Kugel und Wuͤrfel angebe, ſo werde er hieraus den Unterſchied finden koͤnnen, wenn man ihm nur ſage, daß das eine eine Kugel, das andere ein Wuͤrfel ſey, und ihm verſtatte, um beyde herum zu gehen. Eben ſo hat auch <hi rendition="#b">Saunderſon</hi> ſelbſt hievon geurtheilt, und <hi rendition="#b">Prieſtley</hi> glaubt, der Blindgeweſene werde zwar einen Kreis vom Quadrate, aber nicht das Quadrat vom Wuͤrfel, oder den Kreis von der Kugel, unterſcheiden koͤnnen.</p> <p>Die Erlernung des Sehens durch Vergeſellſchaftung der Begriffe erklaͤrt nun ſehr leicht eine Frage, deren Beantwortung Manchem zu ſchaffen gemacht hat, nemlich: warum wir die Gegenſtaͤnde <hi rendition="#b">aufrecht</hi> ſehen, da doch ihr Bild im Auge <hi rendition="#b">umgekehrt</hi> iſt? Man darf ſich nur erinnern, daß wir nicht das Bild ſehen, und daß unſere Begriffe von Oben und Unten, von rechter und linker Seite, vom Aufrechten und Umgekehrten rc. relativ ſind, indem ſie ſich auf die Lagen der Dinge gegen Kopf und Fuͤße, gegen beyde Haͤnde u. ſ. w. beziehen. Dieſe Lagen bleiben auch im Bilde noch dieſelben: was gegen die Fuͤße gekehrt iſt, bildet ſich auch im Auge gegen den Ort zu ab, wo ſich die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [18/0028]
durch eigne Vortheile half, welche von Clemm (Mathematiſches Lehrbuch. Stuttg. 1748. 8. S. 143.) erzaͤhlt werden.
Locke (Eſſay concerning human und erſtanding. B. II. ch. 9. § 8.) erwaͤhnt die von Molyneux aufgeworfene Frage, ob ein Blinder, der durchs Gefuͤhl einen Wuͤrfel und eine Kugel unterſcheiden gelernt hat, beyde durch den bloßen Anblick unterſcheiden wuͤrde, wenn er ſein Geſicht bekaͤme. Molineux ſowohl, als Locke, beantworten dieſe Frage verneinend, weil die durchs Gefuͤhl erhaltenen Vorſtellungen mit den Geſichtsempfindungen in keiner natuͤrlichen und nothwendigen Verbindung ſtehen, ſondern blos durch Uebung, welche hier fehlen wuͤrde, verglichen werden. D. Jurin (in Smith's Lehrbegrif der Optik, der deutſch. Ueberſ. S. 395.) erinnert doch, der Blindgeweſene werde bey genauer Betrachtung bemerken, daß die Kugel das Geſicht von allen Seiten her auf gleiche Art ruͤhre, der Wuͤrfel hingegen anders ausſehe, wenn man ihn aus andern Stellen betrachte. Da nun das Gefuͤhlaͤhnliche Merkmale von Kugel und Wuͤrfel angebe, ſo werde er hieraus den Unterſchied finden koͤnnen, wenn man ihm nur ſage, daß das eine eine Kugel, das andere ein Wuͤrfel ſey, und ihm verſtatte, um beyde herum zu gehen. Eben ſo hat auch Saunderſon ſelbſt hievon geurtheilt, und Prieſtley glaubt, der Blindgeweſene werde zwar einen Kreis vom Quadrate, aber nicht das Quadrat vom Wuͤrfel, oder den Kreis von der Kugel, unterſcheiden koͤnnen.
Die Erlernung des Sehens durch Vergeſellſchaftung der Begriffe erklaͤrt nun ſehr leicht eine Frage, deren Beantwortung Manchem zu ſchaffen gemacht hat, nemlich: warum wir die Gegenſtaͤnde aufrecht ſehen, da doch ihr Bild im Auge umgekehrt iſt? Man darf ſich nur erinnern, daß wir nicht das Bild ſehen, und daß unſere Begriffe von Oben und Unten, von rechter und linker Seite, vom Aufrechten und Umgekehrten rc. relativ ſind, indem ſie ſich auf die Lagen der Dinge gegen Kopf und Fuͤße, gegen beyde Haͤnde u. ſ. w. beziehen. Dieſe Lagen bleiben auch im Bilde noch dieſelben: was gegen die Fuͤße gekehrt iſt, bildet ſich auch im Auge gegen den Ort zu ab, wo ſich die
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