Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Leben der Schwedischen
digte uns an, daß man uns Morgen früh
nach Siberien abführen würde. Wird man
uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun?
Nein, sprach der Russe, nichts mehr, ihr seyd
beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar-
beit verwiesen zu werden. Nun schien uns
das größte Elend geringe zu seyn, da wir nur
hörten, daß man keine weitere Gewalt an uns
ausüben wollte; und wir fanden in dem Ver-
lußte dieser Furcht eine Art des Trostes, den
uns alles andere nicht hätte geben können.
Steeley wollte dem Aufseher noch eine Beloh-
nung geben, allein sein Geld war ihm genom-
men. Nachdem er lange gesucht, fand er end-
lich noch zween Rubel. Er stund vor Freu-
den zum erstenmale von seinem Lager auf und
sagte dem Aufseher, daß er seinen Reichthum
mit ihm theilen wollte. Dieser war auch so
menschlich, daß er ihm die Hälfte zurück gab.
Steeley fragte darauf, wo man den todten
Körper des Sidne hingethan hätte, ob er
ihn nicht noch einmal sehn könnte. Der Russe
antwortete, daß man ihn schon an dem Orte
eingescharret hätte, wo die Missethäter begra-
ben würden. Er liege, wo er wolle, fieng er
mit einem thränenden Ungestüm an, er ist doch
ein ehrlicher Mann und mein Freund: es ist
ihm unrecht geschehn - - Jch rief ihm zu, daß

er

Leben der Schwediſchen
digte uns an, daß man uns Morgen fruͤh
nach Siberien abfuͤhren wuͤrde. Wird man
uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun?
Nein, ſprach der Ruſſe, nichts mehr, ihr ſeyd
beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar-
beit verwieſen zu werden. Nun ſchien uns
das groͤßte Elend geringe zu ſeyn, da wir nur
hoͤrten, daß man keine weitere Gewalt an uns
ausuͤben wollte; und wir fanden in dem Ver-
lußte dieſer Furcht eine Art des Troſtes, den
uns alles andere nicht haͤtte geben koͤnnen.
Steeley wollte dem Aufſeher noch eine Beloh-
nung geben, allein ſein Geld war ihm genom-
men. Nachdem er lange geſucht, fand er end-
lich noch zween Rubel. Er ſtund vor Freu-
den zum erſtenmale von ſeinem Lager auf und
ſagte dem Aufſeher, daß er ſeinen Reichthum
mit ihm theilen wollte. Dieſer war auch ſo
menſchlich, daß er ihm die Haͤlfte zuruͤck gab.
Steeley fragte darauf, wo man den todten
Koͤrper des Sidne hingethan haͤtte, ob er
ihn nicht noch einmal ſehn koͤnnte. Der Ruſſe
antwortete, daß man ihn ſchon an dem Orte
eingeſcharret haͤtte, wo die Miſſethaͤter begra-
ben wuͤrden. Er liege, wo er wolle, fieng er
mit einem thraͤnenden Ungeſtuͤm an, er iſt doch
ein ehrlicher Mann und mein Freund: es iſt
ihm unrecht geſchehn ‒ ‒ Jch rief ihm zu, daß

er
<TEI>
  <text>
    <body>
      <floatingText>
        <body>
          <div type="letter">
            <p><pb facs="#f0030" n="30"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Leben der Schwedi&#x017F;chen</hi></fw><lb/>
digte uns an, daß man uns Morgen fru&#x0364;h<lb/>
nach Siberien abfu&#x0364;hren wu&#x0364;rde. Wird man<lb/>
uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun?<lb/>
Nein, &#x017F;prach der Ru&#x017F;&#x017F;e, nichts mehr, ihr &#x017F;eyd<lb/>
beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar-<lb/>
beit verwie&#x017F;en zu werden. Nun &#x017F;chien uns<lb/>
das gro&#x0364;ßte Elend geringe zu &#x017F;eyn, da wir nur<lb/>
ho&#x0364;rten, daß man keine weitere Gewalt an uns<lb/>
ausu&#x0364;ben wollte; und wir fanden in dem Ver-<lb/>
lußte die&#x017F;er Furcht eine Art des Tro&#x017F;tes, den<lb/>
uns alles andere nicht ha&#x0364;tte geben ko&#x0364;nnen.<lb/>
Steeley wollte dem Auf&#x017F;eher noch eine Beloh-<lb/>
nung geben, allein &#x017F;ein Geld war ihm genom-<lb/>
men. Nachdem er lange ge&#x017F;ucht, fand er end-<lb/>
lich noch zween Rubel. Er &#x017F;tund vor Freu-<lb/>
den zum er&#x017F;tenmale von &#x017F;einem Lager auf und<lb/>
&#x017F;agte dem Auf&#x017F;eher, daß er &#x017F;einen Reichthum<lb/>
mit ihm theilen wollte. Die&#x017F;er war auch &#x017F;o<lb/>
men&#x017F;chlich, daß er ihm die Ha&#x0364;lfte zuru&#x0364;ck gab.<lb/>
Steeley fragte darauf, wo man den todten<lb/>
Ko&#x0364;rper des Sidne hingethan ha&#x0364;tte, ob er<lb/>
ihn nicht noch einmal &#x017F;ehn ko&#x0364;nnte. Der Ru&#x017F;&#x017F;e<lb/>
antwortete, daß man ihn &#x017F;chon an dem Orte<lb/>
einge&#x017F;charret ha&#x0364;tte, wo die Mi&#x017F;&#x017F;etha&#x0364;ter begra-<lb/>
ben wu&#x0364;rden. Er liege, wo er wolle, fieng er<lb/>
mit einem thra&#x0364;nenden Unge&#x017F;tu&#x0364;m an, er i&#x017F;t doch<lb/>
ein ehrlicher Mann und mein Freund: es i&#x017F;t<lb/>
ihm unrecht ge&#x017F;chehn &#x2012; &#x2012; Jch rief ihm zu, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">er</fw><lb/></p>
          </div>
        </body>
      </floatingText>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0030] Leben der Schwediſchen digte uns an, daß man uns Morgen fruͤh nach Siberien abfuͤhren wuͤrde. Wird man uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun? Nein, ſprach der Ruſſe, nichts mehr, ihr ſeyd beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar- beit verwieſen zu werden. Nun ſchien uns das groͤßte Elend geringe zu ſeyn, da wir nur hoͤrten, daß man keine weitere Gewalt an uns ausuͤben wollte; und wir fanden in dem Ver- lußte dieſer Furcht eine Art des Troſtes, den uns alles andere nicht haͤtte geben koͤnnen. Steeley wollte dem Aufſeher noch eine Beloh- nung geben, allein ſein Geld war ihm genom- men. Nachdem er lange geſucht, fand er end- lich noch zween Rubel. Er ſtund vor Freu- den zum erſtenmale von ſeinem Lager auf und ſagte dem Aufſeher, daß er ſeinen Reichthum mit ihm theilen wollte. Dieſer war auch ſo menſchlich, daß er ihm die Haͤlfte zuruͤck gab. Steeley fragte darauf, wo man den todten Koͤrper des Sidne hingethan haͤtte, ob er ihn nicht noch einmal ſehn koͤnnte. Der Ruſſe antwortete, daß man ihn ſchon an dem Orte eingeſcharret haͤtte, wo die Miſſethaͤter begra- ben wuͤrden. Er liege, wo er wolle, fieng er mit einem thraͤnenden Ungeſtuͤm an, er iſt doch ein ehrlicher Mann und mein Freund: es iſt ihm unrecht geſchehn ‒ ‒ Jch rief ihm zu, daß er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/30
Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/30>, abgerufen am 21.11.2024.