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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

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Gräfinn von G**
Wenn nicht die größte Plage durch die Länge
der Zeit etwas von ihrer Last verlöre; wenn
nicht die größten Beschwerlichkeiten dem Kör-
per endlich zur Gewohnheit würden, oder, daß
ich mehr sage, wenn Gott denen, die ohne ih-
re Schuld unglücklich sind, nicht selbst ihr
Schicksal durch ihre Unschuld und durch die
geheimen Vergnügungen eines guten Gewis-
sens in gewissen Stunden erleichterte: so wür-
de mein Zustand in Siberien ein Stand der
Verzweiflung gewesen seyn. So elend jeder
Tag verstrich: so fand ich doch wenigstens als-
dann eine Beruhigung, wenn ich meinen Re-
mour sehn und sprechen, und das, was mir
begegnet war, und auch das, was ich ihm schon
hundertmal gesagt hatte, in seine Seele aus-
schütten konnte. Ein Sclave zu seyn, bleibt
allemal das größte Unglück; allein einen
Freund in diesem Elende zum Gefährten zu
haben, ist zugleich die größte Wohlthat. Ei-
ne Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm,
alles ist ein Trost, der sich nicht ausdrücken
läßt, alles ist Mitleiden; und was sucht ein
unglückliches Herz, das der Nothwendigkeit
elend zu seyn unterworfen ist, mehr, als Mit-
leiden? Jch würde undankbar gegen mein
Schicksal seyn, wenn ich, da ich euch mein Un-

ge-
C 2

Graͤfinn von G**
Wenn nicht die groͤßte Plage durch die Laͤnge
der Zeit etwas von ihrer Laſt verloͤre; wenn
nicht die groͤßten Beſchwerlichkeiten dem Koͤr-
per endlich zur Gewohnheit wuͤrden, oder, daß
ich mehr ſage, wenn Gott denen, die ohne ih-
re Schuld ungluͤcklich ſind, nicht ſelbſt ihr
Schickſal durch ihre Unſchuld und durch die
geheimen Vergnuͤgungen eines guten Gewiſ-
ſens in gewiſſen Stunden erleichterte: ſo wuͤr-
de mein Zuſtand in Siberien ein Stand der
Verzweiflung geweſen ſeyn. So elend jeder
Tag verſtrich: ſo fand ich doch wenigſtens als-
dann eine Beruhigung, wenn ich meinen Re-
mour ſehn und ſprechen, und das, was mir
begegnet war, und auch das, was ich ihm ſchon
hundertmal geſagt hatte, in ſeine Seele aus-
ſchuͤtten konnte. Ein Sclave zu ſeyn, bleibt
allemal das groͤßte Ungluͤck; allein einen
Freund in dieſem Elende zum Gefaͤhrten zu
haben, iſt zugleich die groͤßte Wohlthat. Ei-
ne Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm,
alles iſt ein Troſt, der ſich nicht ausdruͤcken
laͤßt, alles iſt Mitleiden; und was ſucht ein
ungluͤckliches Herz, das der Nothwendigkeit
elend zu ſeyn unterworfen iſt, mehr, als Mit-
leiden? Jch wuͤrde undankbar gegen mein
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[35/0035] Graͤfinn von G** Wenn nicht die groͤßte Plage durch die Laͤnge der Zeit etwas von ihrer Laſt verloͤre; wenn nicht die groͤßten Beſchwerlichkeiten dem Koͤr- per endlich zur Gewohnheit wuͤrden, oder, daß ich mehr ſage, wenn Gott denen, die ohne ih- re Schuld ungluͤcklich ſind, nicht ſelbſt ihr Schickſal durch ihre Unſchuld und durch die geheimen Vergnuͤgungen eines guten Gewiſ- ſens in gewiſſen Stunden erleichterte: ſo wuͤr- de mein Zuſtand in Siberien ein Stand der Verzweiflung geweſen ſeyn. So elend jeder Tag verſtrich: ſo fand ich doch wenigſtens als- dann eine Beruhigung, wenn ich meinen Re- mour ſehn und ſprechen, und das, was mir begegnet war, und auch das, was ich ihm ſchon hundertmal geſagt hatte, in ſeine Seele aus- ſchuͤtten konnte. Ein Sclave zu ſeyn, bleibt allemal das groͤßte Ungluͤck; allein einen Freund in dieſem Elende zum Gefaͤhrten zu haben, iſt zugleich die groͤßte Wohlthat. Ei- ne Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm, alles iſt ein Troſt, der ſich nicht ausdruͤcken laͤßt, alles iſt Mitleiden; und was ſucht ein ungluͤckliches Herz, das der Nothwendigkeit elend zu ſeyn unterworfen iſt, mehr, als Mit- leiden? Jch wuͤrde undankbar gegen mein Schickſal ſeyn, wenn ich, da ich euch mein Un- ge- C 2

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/35>, abgerufen am 23.11.2024.