Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.Einleitung. Möglichkeit wird durch das Vorhandensein einer Ver-fassungsurkunde nicht ausgeschlossen; sie kann durch Gewohnheitsrecht ergänzt, selbst abgeändert werden,5 insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien han- delt, welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechts- bildung im Staate überhaupt entrückt sein sollen.6 Die Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entschei- dende Rechtsüberzeugung ausprägt, kann in einem wei- teren und engeren Kreise hervortreten; sie wird vorzugs- weise in Handlungen desjenigen Personenkreises bestehen, welche der Wissenschaft in den Schriften von Meier (die Rechts- bildung in Staat und Kirche 1861) und Lüders (das Gewohnheits- recht auf dem Gebiete der Verwaltung 1863) empfohlen werden, indem jener wieder die unter der Leitung des Staats wirksame Autonomie, dieser das Handeln des Einzelnen zur Quelle des Ge- wohnheitsrechts macht, -- werden wohl schwerlich betreten werden. 5 Gegen die oft gehörten Einwendungen, der Verfassungseid stehe mit der Möglichkeit der Entstehung abändernder Gewohn- heiten im Widerspruche und die von der Verfassung selbst vor- geschriebene Form der zulässigen Veränderungen hindere diese Art der Rechtsbildung, vergl. Puchta a. a. O. Diesen Einwen- dungen liegt immer der Irrthum zu Grunde, dass die Bildung eines Gewohnheitsrechts ein bewusster, beabsichtigter Vorgang sei, eine Vorstellung, welche ihren Ausdruck u. a. in der Ansicht Mohl's erhält, der (Württembergisches Staatsrecht, Bd. 1. 1846, S. 81 flg.) die Möglichkeit der Entstehung eines die Verfassung berührenden Gewohnheitsrechts unter der Voraussetzung zugiebt, dass Regierung, Geheimerrath und 2/3 der Ständemitglieder still- schweigend zugestimmt haben. Müsste man diess nicht durch die Vorstellung ergänzen, die Stände hätten sich vor der Sitzung darüber verständigt, dass heute mit stummer Geberde ein Ge- wohnheitsrecht "gemacht" werden solle? 6 Welches diese höchsten Principien sind, lässt sich freilich
nicht allgemein, oft nicht einmal vom Standpunkte einer bestimm- ten Verfassung aus sagen. Die Extreme werden nach beiden Rich- tungen hin immer klar sein, während eine Reihe von Mittelpunkten zweifelhaft bleibt. Einleitung. Möglichkeit wird durch das Vorhandensein einer Ver-fassungsurkunde nicht ausgeschlossen; sie kann durch Gewohnheitsrecht ergänzt, selbst abgeändert werden,5 insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien han- delt, welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechts- bildung im Staate überhaupt entrückt sein sollen.6 Die Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entschei- dende Rechtsüberzeugung ausprägt, kann in einem wei- teren und engeren Kreise hervortreten; sie wird vorzugs- weise in Handlungen desjenigen Personenkreises bestehen, welche der Wissenschaft in den Schriften von Meier (die Rechts- bildung in Staat und Kirche 1861) und Lüders (das Gewohnheits- recht auf dem Gebiete der Verwaltung 1863) empfohlen werden, indem jener wieder die unter der Leitung des Staats wirksame Autonomie, dieser das Handeln des Einzelnen zur Quelle des Ge- wohnheitsrechts macht, — werden wohl schwerlich betreten werden. 5 Gegen die oft gehörten Einwendungen, der Verfassungseid stehe mit der Möglichkeit der Entstehung abändernder Gewohn- heiten im Widerspruche und die von der Verfassung selbst vor- geschriebene Form der zulässigen Veränderungen hindere diese Art der Rechtsbildung, vergl. Puchta a. a. O. Diesen Einwen- dungen liegt immer der Irrthum zu Grunde, dass die Bildung eines Gewohnheitsrechts ein bewusster, beabsichtigter Vorgang sei, eine Vorstellung, welche ihren Ausdruck u. a. in der Ansicht Mohl’s erhält, der (Württembergisches Staatsrecht, Bd. 1. 1846, S. 81 flg.) die Möglichkeit der Entstehung eines die Verfassung berührenden Gewohnheitsrechts unter der Voraussetzung zugiebt, dass Regierung, Geheimerrath und ⅔ der Ständemitglieder still- schweigend zugestimmt haben. Müsste man diess nicht durch die Vorstellung ergänzen, die Stände hätten sich vor der Sitzung darüber verständigt, dass heute mit stummer Geberde ein Ge- wohnheitsrecht „gemacht“ werden solle? 6 Welches diese höchsten Principien sind, lässt sich freilich
nicht allgemein, oft nicht einmal vom Standpunkte einer bestimm- ten Verfassung aus sagen. Die Extreme werden nach beiden Rich- tungen hin immer klar sein, während eine Reihe von Mittelpunkten zweifelhaft bleibt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0032" n="14"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/> Möglichkeit wird durch das Vorhandensein einer Ver-<lb/> fassungsurkunde nicht ausgeschlossen; sie kann durch<lb/> Gewohnheitsrecht ergänzt, selbst abgeändert werden,<note place="foot" n="5">Gegen die oft gehörten Einwendungen, der Verfassungseid<lb/> stehe mit der Möglichkeit der Entstehung abändernder Gewohn-<lb/> heiten im Widerspruche und die von der Verfassung selbst vor-<lb/> geschriebene Form der zulässigen Veränderungen hindere diese<lb/> Art der Rechtsbildung, vergl. Puchta a. a. O. Diesen Einwen-<lb/> dungen liegt immer der Irrthum zu Grunde, dass die Bildung<lb/> eines Gewohnheitsrechts ein bewusster, beabsichtigter Vorgang<lb/> sei, eine Vorstellung, welche ihren Ausdruck u. a. in der Ansicht<lb/><hi rendition="#g">Mohl’s</hi> erhält, der (Württembergisches Staatsrecht, Bd. 1. 1846,<lb/> S. 81 flg.) die Möglichkeit der Entstehung eines die Verfassung<lb/> berührenden Gewohnheitsrechts unter der Voraussetzung zugiebt,<lb/> dass Regierung, Geheimerrath und ⅔ der Ständemitglieder still-<lb/> schweigend zugestimmt haben. Müsste man diess nicht durch die<lb/> Vorstellung ergänzen, die Stände hätten sich vor der Sitzung<lb/> darüber verständigt, dass heute mit stummer Geberde ein Ge-<lb/> wohnheitsrecht „gemacht“ werden solle?</note><lb/> insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien han-<lb/> delt, welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechts-<lb/> bildung im Staate überhaupt entrückt sein sollen.<note place="foot" n="6">Welches diese höchsten Principien sind, lässt sich freilich<lb/> nicht allgemein, oft nicht einmal vom Standpunkte einer bestimm-<lb/> ten Verfassung aus sagen. Die Extreme werden nach beiden Rich-<lb/> tungen hin immer klar sein, während eine Reihe von Mittelpunkten<lb/> zweifelhaft bleibt.</note> Die<lb/> Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entschei-<lb/> dende Rechtsüberzeugung ausprägt, kann in einem wei-<lb/> teren und engeren Kreise hervortreten; sie wird vorzugs-<lb/> weise in Handlungen desjenigen Personenkreises bestehen,<lb/><note xml:id="note-0032" prev="#note-0031" place="foot" n="4">welche der Wissenschaft in den Schriften von <hi rendition="#g">Meier</hi> (die Rechts-<lb/> bildung in Staat und Kirche 1861) und <hi rendition="#g">Lüders</hi> (das Gewohnheits-<lb/> recht auf dem Gebiete der Verwaltung 1863) empfohlen werden,<lb/> indem jener wieder die unter der Leitung des Staats wirksame<lb/> Autonomie, dieser das Handeln des Einzelnen zur Quelle des Ge-<lb/> wohnheitsrechts macht, — werden wohl schwerlich betreten werden.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0032]
Einleitung.
Möglichkeit wird durch das Vorhandensein einer Ver-
fassungsurkunde nicht ausgeschlossen; sie kann durch
Gewohnheitsrecht ergänzt, selbst abgeändert werden, 5
insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien han-
delt, welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechts-
bildung im Staate überhaupt entrückt sein sollen. 6 Die
Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entschei-
dende Rechtsüberzeugung ausprägt, kann in einem wei-
teren und engeren Kreise hervortreten; sie wird vorzugs-
weise in Handlungen desjenigen Personenkreises bestehen,
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5 Gegen die oft gehörten Einwendungen, der Verfassungseid
stehe mit der Möglichkeit der Entstehung abändernder Gewohn-
heiten im Widerspruche und die von der Verfassung selbst vor-
geschriebene Form der zulässigen Veränderungen hindere diese
Art der Rechtsbildung, vergl. Puchta a. a. O. Diesen Einwen-
dungen liegt immer der Irrthum zu Grunde, dass die Bildung
eines Gewohnheitsrechts ein bewusster, beabsichtigter Vorgang
sei, eine Vorstellung, welche ihren Ausdruck u. a. in der Ansicht
Mohl’s erhält, der (Württembergisches Staatsrecht, Bd. 1. 1846,
S. 81 flg.) die Möglichkeit der Entstehung eines die Verfassung
berührenden Gewohnheitsrechts unter der Voraussetzung zugiebt,
dass Regierung, Geheimerrath und ⅔ der Ständemitglieder still-
schweigend zugestimmt haben. Müsste man diess nicht durch die
Vorstellung ergänzen, die Stände hätten sich vor der Sitzung
darüber verständigt, dass heute mit stummer Geberde ein Ge-
wohnheitsrecht „gemacht“ werden solle?
6 Welches diese höchsten Principien sind, lässt sich freilich
nicht allgemein, oft nicht einmal vom Standpunkte einer bestimm-
ten Verfassung aus sagen. Die Extreme werden nach beiden Rich-
tungen hin immer klar sein, während eine Reihe von Mittelpunkten
zweifelhaft bleibt.
4 welche der Wissenschaft in den Schriften von Meier (die Rechts-
bildung in Staat und Kirche 1861) und Lüders (das Gewohnheits-
recht auf dem Gebiete der Verwaltung 1863) empfohlen werden,
indem jener wieder die unter der Leitung des Staats wirksame
Autonomie, dieser das Handeln des Einzelnen zur Quelle des Ge-
wohnheitsrechts macht, — werden wohl schwerlich betreten werden.
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