Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.Erster Abschnitt. deutsche Staatsrecht, eine verschiedene Staatsherrschaftgegenüber den vollständig und gegenüber den weniger vollständig unterworfenen Gruppen der Unterthanen. Seine Staatsgewalt ist gegenüber allen Staatsbürgern dasselbe organische Machtrecht, sie ist nirgends mehr jene unentwickelte des älteren deutschen Staatsrechts, welche zum Theil nur auf vertragsartigen Verbindungen beruhte. Durch die Abstreifung aller privatrechtlichen Elemente und die Ergreifung der ganzen sittlichen Macht, welche in dem Begriffe der Staatshoheit ent- halten ist, hat der Staat den rechtlichen Begriff der Staatsgewalt nunmehr vollendet, sowie andererseits da- durch auch der Begriff des Volks als der Gesammtheit der staatlich Beherrschten seine einheitliche Rechtsbe- stimmung erhalten hat. 1 Nicht im Widerspruche hiermit steht es aber, dass 1 Die ältere deutsche Landeshoheit hatte um die gesellschaft-
lichen Kräfte des Mittelalters, die Ritterschaft, Prälaten und Städte, nur ein lockeres Band zu knüpfen gewusst. Die landes- herrliche Gewalt war eine andere gegenüber den Rittern, die sich in Schwaben der Landeshoheit nur "zugewendet" erklärten, eine andere gegenüber den Städten, eine andere gegenüber den Bauern. Moser (von der deutschen Reichsstände Landen, S. 840) sagt: "Hingegen seynd die Landstände privilegirte und solche Unter- thanen, welche der Landesherr nicht mit dem Pöbel zu vermengen hat." Gerade darin, dass jetzt die Staatsgewalt gegenüber jedem Staatsbürger, welcher gesellschaftlichen Classe er auch angehöre, dieselbe ist, liegt die Wahrheit des so oft missverstandenen Satzes: alle Staatsbürger sind gleich vor dem Gesetze. Auch der andere Satz "Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" ist, wenn er richtig verstanden wird, berechtigt, sofern nämlich nicht an eine arithmetische oder mechanische, sondern an eine Gleichheit nach Massgabe dynamischer Verhältnisse gedacht wird. Erster Abschnitt. deutsche Staatsrecht, eine verschiedene Staatsherrschaftgegenüber den vollständig und gegenüber den weniger vollständig unterworfenen Gruppen der Unterthanen. Seine Staatsgewalt ist gegenüber allen Staatsbürgern dasselbe organische Machtrecht, sie ist nirgends mehr jene unentwickelte des älteren deutschen Staatsrechts, welche zum Theil nur auf vertragsartigen Verbindungen beruhte. Durch die Abstreifung aller privatrechtlichen Elemente und die Ergreifung der ganzen sittlichen Macht, welche in dem Begriffe der Staatshoheit ent- halten ist, hat der Staat den rechtlichen Begriff der Staatsgewalt nunmehr vollendet, sowie andererseits da- durch auch der Begriff des Volks als der Gesammtheit der staatlich Beherrschten seine einheitliche Rechtsbe- stimmung erhalten hat. 1 Nicht im Widerspruche hiermit steht es aber, dass 1 Die ältere deutsche Landeshoheit hatte um die gesellschaft-
lichen Kräfte des Mittelalters, die Ritterschaft, Prälaten und Städte, nur ein lockeres Band zu knüpfen gewusst. Die landes- herrliche Gewalt war eine andere gegenüber den Rittern, die sich in Schwaben der Landeshoheit nur „zugewendet“ erklärten, eine andere gegenüber den Städten, eine andere gegenüber den Bauern. Moser (von der deutschen Reichsstände Landen, S. 840) sagt: „Hingegen seynd die Landstände privilegirte und solche Unter- thanen, welche der Landesherr nicht mit dem Pöbel zu vermengen hat.“ Gerade darin, dass jetzt die Staatsgewalt gegenüber jedem Staatsbürger, welcher gesellschaftlichen Classe er auch angehöre, dieselbe ist, liegt die Wahrheit des so oft missverstandenen Satzes: alle Staatsbürger sind gleich vor dem Gesetze. Auch der andere Satz „Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ ist, wenn er richtig verstanden wird, berechtigt, sofern nämlich nicht an eine arithmetische oder mechanische, sondern an eine Gleichheit nach Massgabe dynamischer Verhältnisse gedacht wird. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p><pb facs="#f0066" n="48"/><fw place="top" type="header">Erster Abschnitt.</fw><lb/> deutsche Staatsrecht, eine verschiedene Staatsherrschaft<lb/> gegenüber den vollständig und gegenüber den weniger<lb/> vollständig unterworfenen Gruppen der Unterthanen.<lb/> Seine Staatsgewalt ist gegenüber allen Staatsbürgern<lb/> dasselbe organische Machtrecht, sie ist nirgends mehr<lb/> jene unentwickelte des älteren deutschen Staatsrechts,<lb/> welche zum Theil nur auf vertragsartigen Verbindungen<lb/> beruhte. Durch die Abstreifung aller privatrechtlichen<lb/> Elemente und die Ergreifung der ganzen sittlichen<lb/> Macht, welche in dem Begriffe der Staatshoheit ent-<lb/> halten ist, hat der Staat den rechtlichen Begriff der<lb/> Staatsgewalt nunmehr vollendet, sowie andererseits da-<lb/> durch auch der Begriff des Volks als der Gesammtheit<lb/> der staatlich Beherrschten seine einheitliche Rechtsbe-<lb/> stimmung erhalten hat. <note place="foot" n="1">Die ältere deutsche Landeshoheit hatte um die gesellschaft-<lb/> lichen Kräfte des Mittelalters, die Ritterschaft, Prälaten und<lb/> Städte, nur ein lockeres Band zu knüpfen gewusst. Die landes-<lb/> herrliche Gewalt war eine andere gegenüber den Rittern, die sich<lb/> in Schwaben der Landeshoheit nur „zugewendet“ erklärten, eine<lb/> andere gegenüber den Städten, eine andere gegenüber den Bauern.<lb/><hi rendition="#g">Moser</hi> (von der deutschen Reichsstände Landen, S. 840) sagt:<lb/> „Hingegen seynd die Landstände privilegirte und solche Unter-<lb/> thanen, welche der Landesherr nicht mit dem Pöbel zu vermengen<lb/> hat.“ Gerade darin, dass jetzt die Staatsgewalt gegenüber jedem<lb/> Staatsbürger, welcher gesellschaftlichen Classe er auch angehöre,<lb/> dieselbe ist, liegt die Wahrheit des so oft missverstandenen Satzes:<lb/> alle Staatsbürger sind gleich vor dem Gesetze. Auch der andere<lb/> Satz „Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“<lb/> ist, wenn er richtig verstanden wird, berechtigt, sofern nämlich<lb/> nicht an eine arithmetische oder mechanische, sondern an eine<lb/> Gleichheit nach Massgabe dynamischer Verhältnisse gedacht wird.</note></p><lb/> <p>Nicht im Widerspruche hiermit steht es aber, dass<lb/> die dem Gewaltrechte des Staats entsprechenden poli-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0066]
Erster Abschnitt.
deutsche Staatsrecht, eine verschiedene Staatsherrschaft
gegenüber den vollständig und gegenüber den weniger
vollständig unterworfenen Gruppen der Unterthanen.
Seine Staatsgewalt ist gegenüber allen Staatsbürgern
dasselbe organische Machtrecht, sie ist nirgends mehr
jene unentwickelte des älteren deutschen Staatsrechts,
welche zum Theil nur auf vertragsartigen Verbindungen
beruhte. Durch die Abstreifung aller privatrechtlichen
Elemente und die Ergreifung der ganzen sittlichen
Macht, welche in dem Begriffe der Staatshoheit ent-
halten ist, hat der Staat den rechtlichen Begriff der
Staatsgewalt nunmehr vollendet, sowie andererseits da-
durch auch der Begriff des Volks als der Gesammtheit
der staatlich Beherrschten seine einheitliche Rechtsbe-
stimmung erhalten hat. 1
Nicht im Widerspruche hiermit steht es aber, dass
die dem Gewaltrechte des Staats entsprechenden poli-
1 Die ältere deutsche Landeshoheit hatte um die gesellschaft-
lichen Kräfte des Mittelalters, die Ritterschaft, Prälaten und
Städte, nur ein lockeres Band zu knüpfen gewusst. Die landes-
herrliche Gewalt war eine andere gegenüber den Rittern, die sich
in Schwaben der Landeshoheit nur „zugewendet“ erklärten, eine
andere gegenüber den Städten, eine andere gegenüber den Bauern.
Moser (von der deutschen Reichsstände Landen, S. 840) sagt:
„Hingegen seynd die Landstände privilegirte und solche Unter-
thanen, welche der Landesherr nicht mit dem Pöbel zu vermengen
hat.“ Gerade darin, dass jetzt die Staatsgewalt gegenüber jedem
Staatsbürger, welcher gesellschaftlichen Classe er auch angehöre,
dieselbe ist, liegt die Wahrheit des so oft missverstandenen Satzes:
alle Staatsbürger sind gleich vor dem Gesetze. Auch der andere
Satz „Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“
ist, wenn er richtig verstanden wird, berechtigt, sofern nämlich
nicht an eine arithmetische oder mechanische, sondern an eine
Gleichheit nach Massgabe dynamischer Verhältnisse gedacht wird.
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