Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.erst recht aufhören von einer besonderen Lebensunfähigkeit der Naturvölker zu sprechen, da wir dem Unheil, welchem jene unterliegen, viel rascher unterliegen würden. Ja, wir würden nach Gründen suchen müssen, wie es kommt, dass jene Völker eine grössere Widerstandsfähigkeit haben wie wir; und finden dieselben in ihrer grösseren leiblichen Abhärtung, sowie in ihrer geringen geistigen Empfindlichkeit, welche immer mit geringer Geistesentwickelung Hand in Hand geht. -- Wenn wir nun dennoch die Kulturvölker wohl ohnmächtig und geschichtlich unbedeutend werden, aber nicht eigentlich verschwinden sehen, so kommt dies daher, dass sie gerade in solchen Zeiten der Gefahr mit neuen Menschenschaaren durchsetzt werden. Die Verwüster Italiens, die Germanen, liessen sich massenhaft in den blühenden Fluren des besiegten Landes nieder; ebenso die Bulgaren in Griechenland u. s. w. Oder die schon bestehende Kultur bietet neue Hülfsmittel, wohin man auch das Einwandern zahlreicher Franzosen in unser Vaterland nach dem 30jährigen Krieg rechnen mag. Beispiele von Kulturvölkern, die völlig vernichtet sind, wie ihre Kultur, bietet die Geschichte von Kleinasien. Es fällt von hier aus noch einmal ein Blick auf die Eintheilung, nach welcher Carus die Menschen betrachtet; man sieht auch hier, wie wenig stichhaltig sie ist, denn seine Tagmenschen haben keine grössere Widerstandsfähigkeit, als seine Nacht- oder Dämmerungsmenschen; und während er behauptet (17), dass die westlichen Dämmerungsvölker, die Amerikaner, "wirklich dem Untergange zugewendet" seien, so sehen wir die Tagvölker noch rascher ihrem Untergange zueilen, schon wenn sie durch weit mildere Schicksale heimgesucht werden. -- Auch die Eintheilung der Menschheit in aktive und passive Völker, wie sie Klemm und Wuttke geben (Waitz 1, 344) hat ihr sehr Bedenkliches; sie ist falsch, wenn man in grösserer Aktivität zugleich nach jeder Richtung hin grössere Kraftentwickelung sieht, denn die "aktiven" Völker (die Kulturvölker) zerbrechen im Unglück viel leichter, als die zäheren und härteren Naturvölker; sie ist ferner falsch, wenn man sie als in der ursprünglichen Natur der Menschheit begründet, wenn man also Aktivität oder Passivität als verschiedenen Völkern angeboren ansieht: denn von Haus aus gleich organisirt hat sich die Menschheit durch verschiedene Naturumgebung, verschiedene Schicksale u. s. w. im Lauf der Jahrtausende so verschieden entwickelt, wie wir sie in geschichtlicher Zeit vorfinden. erst recht aufhören von einer besonderen Lebensunfähigkeit der Naturvölker zu sprechen, da wir dem Unheil, welchem jene unterliegen, viel rascher unterliegen würden. Ja, wir würden nach Gründen suchen müssen, wie es kommt, dass jene Völker eine grössere Widerstandsfähigkeit haben wie wir; und finden dieselben in ihrer grösseren leiblichen Abhärtung, sowie in ihrer geringen geistigen Empfindlichkeit, welche immer mit geringer Geistesentwickelung Hand in Hand geht. — Wenn wir nun dennoch die Kulturvölker wohl ohnmächtig und geschichtlich unbedeutend werden, aber nicht eigentlich verschwinden sehen, so kommt dies daher, dass sie gerade in solchen Zeiten der Gefahr mit neuen Menschenschaaren durchsetzt werden. Die Verwüster Italiens, die Germanen, liessen sich massenhaft in den blühenden Fluren des besiegten Landes nieder; ebenso die Bulgaren in Griechenland u. s. w. Oder die schon bestehende Kultur bietet neue Hülfsmittel, wohin man auch das Einwandern zahlreicher Franzosen in unser Vaterland nach dem 30jährigen Krieg rechnen mag. Beispiele von Kulturvölkern, die völlig vernichtet sind, wie ihre Kultur, bietet die Geschichte von Kleinasien. Es fällt von hier aus noch einmal ein Blick auf die Eintheilung, nach welcher Carus die Menschen betrachtet; man sieht auch hier, wie wenig stichhaltig sie ist, denn seine Tagmenschen haben keine grössere Widerstandsfähigkeit, als seine Nacht- oder Dämmerungsmenschen; und während er behauptet (17), dass die westlichen Dämmerungsvölker, die Amerikaner, »wirklich dem Untergange zugewendet« seien, so sehen wir die Tagvölker noch rascher ihrem Untergange zueilen, schon wenn sie durch weit mildere Schicksale heimgesucht werden. — Auch die Eintheilung der Menschheit in aktive und passive Völker, wie sie Klemm und Wuttke geben (Waitz 1, 344) hat ihr sehr Bedenkliches; sie ist falsch, wenn man in grösserer Aktivität zugleich nach jeder Richtung hin grössere Kraftentwickelung sieht, denn die »aktiven« Völker (die Kulturvölker) zerbrechen im Unglück viel leichter, als die zäheren und härteren Naturvölker; sie ist ferner falsch, wenn man sie als in der ursprünglichen Natur der Menschheit begründet, wenn man also Aktivität oder Passivität als verschiedenen Völkern angeboren ansieht: denn von Haus aus gleich organisirt hat sich die Menschheit durch verschiedene Naturumgebung, verschiedene Schicksale u. s. w. im Lauf der Jahrtausende so verschieden entwickelt, wie wir sie in geschichtlicher Zeit vorfinden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0136"/> erst recht aufhören von einer besonderen Lebensunfähigkeit der Naturvölker zu sprechen, da wir dem Unheil, welchem jene unterliegen, viel rascher unterliegen würden. Ja, wir würden nach Gründen suchen müssen, wie es kommt, dass jene Völker eine grössere Widerstandsfähigkeit haben wie wir; und finden dieselben in ihrer grösseren leiblichen Abhärtung, sowie in ihrer geringen geistigen Empfindlichkeit, welche immer mit geringer Geistesentwickelung Hand in Hand geht. — Wenn wir nun dennoch die Kulturvölker wohl ohnmächtig und geschichtlich unbedeutend werden, aber nicht eigentlich verschwinden sehen, so kommt dies daher, dass sie gerade in solchen Zeiten der Gefahr mit neuen Menschenschaaren durchsetzt werden. Die Verwüster Italiens, die Germanen, liessen sich massenhaft in den blühenden Fluren des besiegten Landes nieder; ebenso die Bulgaren in Griechenland u. s. w. Oder die schon bestehende Kultur bietet neue Hülfsmittel, wohin man auch das Einwandern zahlreicher Franzosen in unser Vaterland nach dem 30jährigen Krieg rechnen mag. Beispiele von Kulturvölkern, die völlig vernichtet sind, wie ihre Kultur, bietet die Geschichte von Kleinasien.</p> <p>Es fällt von hier aus noch einmal ein Blick auf die Eintheilung, nach welcher Carus die Menschen betrachtet; man sieht auch hier, wie wenig stichhaltig sie ist, denn seine Tagmenschen haben keine grössere Widerstandsfähigkeit, als seine Nacht- oder Dämmerungsmenschen; und während er behauptet (17), dass die westlichen Dämmerungsvölker, die Amerikaner, »wirklich dem Untergange zugewendet« seien, so sehen wir die Tagvölker noch rascher ihrem Untergange zueilen, schon wenn sie durch weit mildere Schicksale heimgesucht werden. — Auch die Eintheilung der Menschheit in aktive und passive Völker, wie sie Klemm und Wuttke geben (Waitz 1, 344) hat ihr sehr Bedenkliches; sie ist falsch, wenn man in grösserer Aktivität zugleich nach jeder Richtung hin grössere Kraftentwickelung sieht, denn die »aktiven« Völker (die Kulturvölker) zerbrechen im Unglück viel leichter, als die zäheren und härteren Naturvölker; sie ist ferner falsch, wenn man sie als in der ursprünglichen Natur der Menschheit begründet, wenn man also Aktivität oder Passivität als verschiedenen Völkern angeboren ansieht: denn von Haus aus gleich organisirt hat sich die Menschheit durch verschiedene Naturumgebung, verschiedene Schicksale u. s. w. im Lauf der Jahrtausende so verschieden entwickelt, wie wir sie in geschichtlicher Zeit vorfinden.</p> </div> </body> </text> </TEI> [0136]
erst recht aufhören von einer besonderen Lebensunfähigkeit der Naturvölker zu sprechen, da wir dem Unheil, welchem jene unterliegen, viel rascher unterliegen würden. Ja, wir würden nach Gründen suchen müssen, wie es kommt, dass jene Völker eine grössere Widerstandsfähigkeit haben wie wir; und finden dieselben in ihrer grösseren leiblichen Abhärtung, sowie in ihrer geringen geistigen Empfindlichkeit, welche immer mit geringer Geistesentwickelung Hand in Hand geht. — Wenn wir nun dennoch die Kulturvölker wohl ohnmächtig und geschichtlich unbedeutend werden, aber nicht eigentlich verschwinden sehen, so kommt dies daher, dass sie gerade in solchen Zeiten der Gefahr mit neuen Menschenschaaren durchsetzt werden. Die Verwüster Italiens, die Germanen, liessen sich massenhaft in den blühenden Fluren des besiegten Landes nieder; ebenso die Bulgaren in Griechenland u. s. w. Oder die schon bestehende Kultur bietet neue Hülfsmittel, wohin man auch das Einwandern zahlreicher Franzosen in unser Vaterland nach dem 30jährigen Krieg rechnen mag. Beispiele von Kulturvölkern, die völlig vernichtet sind, wie ihre Kultur, bietet die Geschichte von Kleinasien.
Es fällt von hier aus noch einmal ein Blick auf die Eintheilung, nach welcher Carus die Menschen betrachtet; man sieht auch hier, wie wenig stichhaltig sie ist, denn seine Tagmenschen haben keine grössere Widerstandsfähigkeit, als seine Nacht- oder Dämmerungsmenschen; und während er behauptet (17), dass die westlichen Dämmerungsvölker, die Amerikaner, »wirklich dem Untergange zugewendet« seien, so sehen wir die Tagvölker noch rascher ihrem Untergange zueilen, schon wenn sie durch weit mildere Schicksale heimgesucht werden. — Auch die Eintheilung der Menschheit in aktive und passive Völker, wie sie Klemm und Wuttke geben (Waitz 1, 344) hat ihr sehr Bedenkliches; sie ist falsch, wenn man in grösserer Aktivität zugleich nach jeder Richtung hin grössere Kraftentwickelung sieht, denn die »aktiven« Völker (die Kulturvölker) zerbrechen im Unglück viel leichter, als die zäheren und härteren Naturvölker; sie ist ferner falsch, wenn man sie als in der ursprünglichen Natur der Menschheit begründet, wenn man also Aktivität oder Passivität als verschiedenen Völkern angeboren ansieht: denn von Haus aus gleich organisirt hat sich die Menschheit durch verschiedene Naturumgebung, verschiedene Schicksale u. s. w. im Lauf der Jahrtausende so verschieden entwickelt, wie wir sie in geschichtlicher Zeit vorfinden.
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