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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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gatten, oder weil sie dieselben nicht ernähren, nicht mitnehmen konnten; das heisst in den meisten Fällen, weil sie jede ungewöhnliche Anstrengung, welche ihnen die hülflosen Kinder auferlegt hätten, scheuten. Zwillinge und missgestaltete Kinder wurden stets umgebracht (Waitz 2, 340 und daselbst die Quellen).

Ebenso war es in Amerika, namentlich in der südlichen Hälfte des Kontinentes, während die Indianer Nordamerikas, wie sie überhaupt höher stehen, auch ihre Kinder besser halten, ja sie oft mit der innigsten Liebe pflegen. So verwenden z. B. die Potowatomi auch auf arbeitsunfähige und blödsinnige Kinder zärtliche Sorgfalt (Waitz 3, 115-16); und die Huronen zogen auch solche Säuglinge auf, deren Mutter gestorben war (Waitz b, 100). Künstlicher Abortus dagegen war weit verbreitet unter den Thakallis, dem westlichsten Stamm der Athapasken, welcher auch sonst sehr tief stand und von Keuschheit oder ehelicher Treue keinen Begriff hatte (Waitz b, 90). Dass die Knisteno namentlich ihre weiblichen Kinder tödteten, um sie vor dem elenden Loos des Lebens, das sie erwartete, zu behüten (Waitz 3, 103), ist schon erwähnt. Und nun gar in Südamerika. Die Guanas (Azara 232) bringen die meisten Mädchen sofort bei der Geburt um, indem sie die Neugeborenen lebendig begraben; überhaupt aber ziehen sie nur etwa die Hälfte ihrer Kinder auf. Da es bei den Tupis Sitte war (Waitz 3, 423), die Neugeborenen dadurch anzuerkennen, dass man sie vom Boden aufhob, so können wir hieraus schliessen, dass bei ihnen, wenigstens in früherer Zeit, viele Kinder, die man eben nicht aufhob, getödtet sind. Von den Guaikurus (östlich vom oberen Paraguay) berichtet Azara 273, dass die ganze Nation hauptsächlich durch Abtreiben der Kinder, von denen sie nur das letzte und also, da diese Rechnung sehr unsicher ist, oft keins schonten, ganz verschwunden sei; und wenn wir auch mit Waitz (3, 430) diese Nachrichten, sowohl in Beziehung auf ihr Aussterben -- denn Castelnau z. B. fand 6 Stämme von ihnen, darunter zwei ackerbauend, am Paraguay vor -- als auch in Betreff dieser furchtbaren Ausdehnung des Kindermords für übertrieben halten, so muss doch künstlicher Abortus bei ihnen vorzugsweise verbreitet gewesen sein, wie ihn auch noch neuere Reisende, Martius, Castelnau bei Waitz 3, 472 als gewöhnlich unter ihnen angeben. Auch von den Mbayes, welche indess von den Guaikurus nicht zu trennen sind, gibt Azara 250 genau dasselbe an: sie tödten alle Kinder bis auf eins, bisweilen auch alle insgesammt. Als Gründe für diese Sitte geben die Indianerinnen an, regelmässige Geburten machten sie vor der Zeit alt und hässlich, auch sei es ihnen, bei ihren ewigen Wanderzügen, wo sie selbst oft nichts zu essen hätten, sehr schwer mehr als ein Kind mitzunehmen und zu erhalten. Fühlte sich also eine Frau schwanger, so legte sie sich auf die Erde und andere Weiber gaben ihr so lange die heftigsten Schläge auf den

gatten, oder weil sie dieselben nicht ernähren, nicht mitnehmen konnten; das heisst in den meisten Fällen, weil sie jede ungewöhnliche Anstrengung, welche ihnen die hülflosen Kinder auferlegt hätten, scheuten. Zwillinge und missgestaltete Kinder wurden stets umgebracht (Waitz 2, 340 und daselbst die Quellen).

Ebenso war es in Amerika, namentlich in der südlichen Hälfte des Kontinentes, während die Indianer Nordamerikas, wie sie überhaupt höher stehen, auch ihre Kinder besser halten, ja sie oft mit der innigsten Liebe pflegen. So verwenden z. B. die Potowatomi auch auf arbeitsunfähige und blödsinnige Kinder zärtliche Sorgfalt (Waitz 3, 115-16); und die Huronen zogen auch solche Säuglinge auf, deren Mutter gestorben war (Waitz b, 100). Künstlicher Abortus dagegen war weit verbreitet unter den Thakallis, dem westlichsten Stamm der Athapasken, welcher auch sonst sehr tief stand und von Keuschheit oder ehelicher Treue keinen Begriff hatte (Waitz b, 90). Dass die Knisteno namentlich ihre weiblichen Kinder tödteten, um sie vor dem elenden Loos des Lebens, das sie erwartete, zu behüten (Waitz 3, 103), ist schon erwähnt. Und nun gar in Südamerika. Die Guanas (Azara 232) bringen die meisten Mädchen sofort bei der Geburt um, indem sie die Neugeborenen lebendig begraben; überhaupt aber ziehen sie nur etwa die Hälfte ihrer Kinder auf. Da es bei den Tupis Sitte war (Waitz 3, 423), die Neugeborenen dadurch anzuerkennen, dass man sie vom Boden aufhob, so können wir hieraus schliessen, dass bei ihnen, wenigstens in früherer Zeit, viele Kinder, die man eben nicht aufhob, getödtet sind. Von den Guaikurus (östlich vom oberen Paraguay) berichtet Azara 273, dass die ganze Nation hauptsächlich durch Abtreiben der Kinder, von denen sie nur das letzte und also, da diese Rechnung sehr unsicher ist, oft keins schonten, ganz verschwunden sei; und wenn wir auch mit Waitz (3, 430) diese Nachrichten, sowohl in Beziehung auf ihr Aussterben — denn Castelnau z. B. fand 6 Stämme von ihnen, darunter zwei ackerbauend, am Paraguay vor — als auch in Betreff dieser furchtbaren Ausdehnung des Kindermords für übertrieben halten, so muss doch künstlicher Abortus bei ihnen vorzugsweise verbreitet gewesen sein, wie ihn auch noch neuere Reisende, Martius, Castelnau bei Waitz 3, 472 als gewöhnlich unter ihnen angeben. Auch von den Mbayes, welche indess von den Guaikurus nicht zu trennen sind, gibt Azara 250 genau dasselbe an: sie tödten alle Kinder bis auf eins, bisweilen auch alle insgesammt. Als Gründe für diese Sitte geben die Indianerinnen an, regelmässige Geburten machten sie vor der Zeit alt und hässlich, auch sei es ihnen, bei ihren ewigen Wanderzügen, wo sie selbst oft nichts zu essen hätten, sehr schwer mehr als ein Kind mitzunehmen und zu erhalten. Fühlte sich also eine Frau schwanger, so legte sie sich auf die Erde und andere Weiber gaben ihr so lange die heftigsten Schläge auf den

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 Nordamerikas, wie sie überhaupt höher stehen, auch ihre
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 So verwenden z. B. die Potowatomi auch auf arbeitsunfähige und
 blödsinnige Kinder zärtliche Sorgfalt (Waitz 3, 115-16);
 und die Huronen zogen auch solche Säuglinge auf, deren Mutter
 gestorben war (Waitz b, 100). Künstlicher Abortus dagegen war
 weit verbreitet unter den Thakallis, dem westlichsten Stamm der
 Athapasken, welcher auch sonst sehr tief stand und von Keuschheit
 oder ehelicher Treue keinen Begriff hatte (Waitz b, 90). Dass die
 Knisteno namentlich ihre weiblichen Kinder tödteten, um sie
 vor dem elenden Loos des Lebens, das sie erwartete, zu behüten
 (Waitz 3, 103), ist schon erwähnt. Und nun gar in
 Südamerika. Die Guanas (Azara 232) bringen die meisten
 Mädchen sofort bei der Geburt um, indem sie die Neugeborenen
 lebendig begraben; überhaupt aber ziehen sie nur etwa die
 Hälfte ihrer Kinder auf. Da es bei den Tupis Sitte war (Waitz
 3, 423), die Neugeborenen dadurch anzuerkennen, dass man sie vom
 Boden aufhob, so können wir hieraus schliessen, dass bei
 ihnen, wenigstens in früherer Zeit, viele Kinder, die man eben
 nicht aufhob, getödtet sind. Von den Guaikurus (östlich
 vom oberen Paraguay) berichtet Azara 273, dass die ganze Nation
 hauptsächlich durch Abtreiben der Kinder, von denen sie nur
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 gewöhnlich unter ihnen angeben. Auch von den Mbayes, welche
 indess von den Guaikurus nicht zu trennen sind, gibt Azara 250
 genau dasselbe an: sie tödten alle Kinder bis auf eins,
 bisweilen auch alle insgesammt. Als Gründe für diese
 Sitte geben die Indianerinnen an, regelmässige Geburten
 machten sie vor der Zeit alt und hässlich, auch sei es ihnen,
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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/63>, abgerufen am 21.11.2024.