Gerstäcker, Friedrich: Germelshausen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 21–119. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment, in der nächsten Secunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen. Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verriethen ein nahendes Gewitter. Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirthshause heraus, und wie der Wind dort herüber saus'te, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören -- aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchthurmglocke zum Schlagen aus -- in demselben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über dem Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor sich auf der Erde fühlte er da das Packet, das Gertrud aus dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und jene Mappe, und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorfe entdeckte Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment, in der nächsten Secunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen. Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verriethen ein nahendes Gewitter. Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirthshause heraus, und wie der Wind dort herüber saus'te, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören — aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchthurmglocke zum Schlagen aus — in demselben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über dem Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor sich auf der Erde fühlte er da das Packet, das Gertrud aus dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und jene Mappe, und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorfe entdeckte <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0043"/> Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment, in der nächsten Secunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen.</p><lb/> <p>Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verriethen ein nahendes Gewitter.</p><lb/> <p>Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirthshause heraus, und wie der Wind dort herüber saus'te, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören — aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchthurmglocke zum Schlagen aus — in demselben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über dem Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.</p><lb/> <p>Vor sich auf der Erde fühlte er da das Packet, das Gertrud aus dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und jene Mappe, und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorfe entdeckte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment, in der nächsten Secunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen.
Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verriethen ein nahendes Gewitter.
Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirthshause heraus, und wie der Wind dort herüber saus'te, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören — aber nicht lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchthurmglocke zum Schlagen aus — in demselben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über dem Hang tobte, daß Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Vor sich auf der Erde fühlte er da das Packet, das Gertrud aus dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und jene Mappe, und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorfe entdeckte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910/43 |
Zitationshilfe: | Gerstäcker, Friedrich: Germelshausen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 21–119. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910/43>, abgerufen am 30.09.2023. |