Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gerstäcker, Friedrich: Germelshausen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 21–119. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Dorfe vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke Eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Noth, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paar Mal, in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens; zum Tode erschöpft, von einem eigenthümlichen Grausen erfaßt, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, die Nacht dort zu verbringen.

Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber! Denn zitternd vor Frost war er nicht im Stande, der langen Nacht auch nur eine Secunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs Neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu vernehmen, um immer aufs Neue sich getäuscht zu sehen.

Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen.

Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter -- schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen -- aber vergebens suchte sein Blick

Dorfe vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke Eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Noth, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paar Mal, in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens; zum Tode erschöpft, von einem eigenthümlichen Grausen erfaßt, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, die Nacht dort zu verbringen.

Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber! Denn zitternd vor Frost war er nicht im Stande, der langen Nacht auch nur eine Secunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs Neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu vernehmen, um immer aufs Neue sich getäuscht zu sehen.

Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen.

Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter — schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen — aber vergebens suchte sein Blick

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="0">
        <p><pb facs="#f0045"/>
Dorfe vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu     verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke     Eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu     ihm herüber, und mit Mühe und Noth, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er     sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl     versuchte er von hier aus noch ein paar Mal, in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu     finden, aber vergebens; zum Tode erschöpft, von einem eigenthümlichen Grausen erfaßt, mied er     zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, die Nacht     dort zu verbringen.</p><lb/>
        <p>Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber! Denn zitternd vor Frost war er nicht im     Stande, der langen Nacht auch nur eine Secunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei     in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs Neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu     vernehmen, um immer aufs Neue sich getäuscht zu sehen.</p><lb/>
        <p>Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen,     der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den     dunklen Bäumen.</p><lb/>
        <p>Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter &#x2014; schon konnte er deutlich um sich her     die Wipfel der Bäume erkennen &#x2014; aber vergebens suchte sein Blick<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] Dorfe vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke Eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Noth, durch und durch naß und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paar Mal, in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens; zum Tode erschöpft, von einem eigenthümlichen Grausen erfaßt, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, die Nacht dort zu verbringen. Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber! Denn zitternd vor Frost war er nicht im Stande, der langen Nacht auch nur eine Secunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs Neue glaubte er den rauhen Schlag der Glocke zu vernehmen, um immer aufs Neue sich getäuscht zu sehen. Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen. Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter — schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen — aber vergebens suchte sein Blick

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:22:05Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:22:05Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910/45
Zitationshilfe: Gerstäcker, Friedrich: Germelshausen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 21–119. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerstaecker_germelshausen_1910/45>, abgerufen am 19.04.2024.