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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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Geht in die Gassen der großen Städte und seht die zahl-
losen in Armut und Unwissenheit aufwachsenden Kinder; blickt
auf das Laster und das Elend, das sie umgiebt. Geht in
unsere Gefängnisse und Zuchthäuser, wo Frauen, die vielleicht
nur, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, zu Diebinnen
wurden, neben den Verworfensten ihres Geschlechtes im gleichen
Raume hausen. Geht in die Fabriken und seht, wie Männer
und Frauen mit Anspannung aller Kräfte jahraus, jahrein,
Eure Kleider weben, das Spielzeug Eurer Kinder schaffen,
während sie selbst in Lumpen gehen, und ihre Kinder in der
Gasse spielen. Geht in die Armenhäuser der Dörfer, wo Jung
und Alt eng gedrängt bei einander wohnt und noch dankbar
sein muß für diese "Wohlthat". Geht in die Höhlen des
Lasters, wo Mann und Weib zum Tiere herabsinkt. Denkt an
die jüngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majestät des
Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen schändete, aber dessen un-
geachtet für einen "tüchtigen und pflichttreuen Beamten" erklärt
wurde, -- und dann wagt es noch zu sagen: wir haben keine
Bürger-Pflicht!

Jch möchte von Ort zu Ort wandern und jene heilsame
Unzufriedenheit, welche die Mutter aller Reformen ist, in die
Herzen der Frauen pflanzen, und ihr schlummerndes Gewissen
möchte ich aufrütteln, daß es sich seiner Verantwortlichkeit
für alles Elend in der Welt bewußt wird. Aber noch ein
anderes starkes Gefühl, das alle diejenigen beseelte, welche der
Menschheit dienten, muß in den Herzen mächtig werden: der
Glaube, daß das Glück aller Menschen möglich ist. Je stärker
wir unseren Willen auf dieses Ziel richten, desto energischer
werden wir verlangen, auf gesetzlichem Wege unseren Willen
geltend machen zu dürfen.

Viele -- und unter den Vielen auch solche Frauen, die in
der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung stehen, -- meinen,
das weibliche Geschlecht sei noch nicht reif zur Freiheit; es
würde nicht verstehen, die Rechte, die man ihm giebt, zu be-
nutzen; es sei für das öffentliche Leben noch nicht erzogen.

Kant, der größte Philosoph Deutschlands, hat schon vor

Geht in die Gassen der großen Städte und seht die zahl-
losen in Armut und Unwissenheit aufwachsenden Kinder; blickt
auf das Laster und das Elend, das sie umgiebt. Geht in
unsere Gefängnisse und Zuchthäuser, wo Frauen, die vielleicht
nur, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, zu Diebinnen
wurden, neben den Verworfensten ihres Geschlechtes im gleichen
Raume hausen. Geht in die Fabriken und seht, wie Männer
und Frauen mit Anspannung aller Kräfte jahraus, jahrein,
Eure Kleider weben, das Spielzeug Eurer Kinder schaffen,
während sie selbst in Lumpen gehen, und ihre Kinder in der
Gasse spielen. Geht in die Armenhäuser der Dörfer, wo Jung
und Alt eng gedrängt bei einander wohnt und noch dankbar
sein muß für diese „Wohlthat‟. Geht in die Höhlen des
Lasters, wo Mann und Weib zum Tiere herabsinkt. Denkt an
die jüngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majestät des
Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen schändete, aber dessen un-
geachtet für einen „tüchtigen und pflichttreuen Beamten‟ erklärt
wurde, — und dann wagt es noch zu sagen: wir haben keine
Bürger-Pflicht!

Jch möchte von Ort zu Ort wandern und jene heilsame
Unzufriedenheit, welche die Mutter aller Reformen ist, in die
Herzen der Frauen pflanzen, und ihr schlummerndes Gewissen
möchte ich aufrütteln, daß es sich seiner Verantwortlichkeit
für alles Elend in der Welt bewußt wird. Aber noch ein
anderes starkes Gefühl, das alle diejenigen beseelte, welche der
Menschheit dienten, muß in den Herzen mächtig werden: der
Glaube, daß das Glück aller Menschen möglich ist. Je stärker
wir unseren Willen auf dieses Ziel richten, desto energischer
werden wir verlangen, auf gesetzlichem Wege unseren Willen
geltend machen zu dürfen.

Viele — und unter den Vielen auch solche Frauen, die in
der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung stehen, — meinen,
das weibliche Geschlecht sei noch nicht reif zur Freiheit; es
würde nicht verstehen, die Rechte, die man ihm giebt, zu be-
nutzen; es sei für das öffentliche Leben noch nicht erzogen.

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[22/0023] Geht in die Gassen der großen Städte und seht die zahl- losen in Armut und Unwissenheit aufwachsenden Kinder; blickt auf das Laster und das Elend, das sie umgiebt. Geht in unsere Gefängnisse und Zuchthäuser, wo Frauen, die vielleicht nur, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, zu Diebinnen wurden, neben den Verworfensten ihres Geschlechtes im gleichen Raume hausen. Geht in die Fabriken und seht, wie Männer und Frauen mit Anspannung aller Kräfte jahraus, jahrein, Eure Kleider weben, das Spielzeug Eurer Kinder schaffen, während sie selbst in Lumpen gehen, und ihre Kinder in der Gasse spielen. Geht in die Armenhäuser der Dörfer, wo Jung und Alt eng gedrängt bei einander wohnt und noch dankbar sein muß für diese „Wohlthat‟. Geht in die Höhlen des Lasters, wo Mann und Weib zum Tiere herabsinkt. Denkt an die jüngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majestät des Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen schändete, aber dessen un- geachtet für einen „tüchtigen und pflichttreuen Beamten‟ erklärt wurde, — und dann wagt es noch zu sagen: wir haben keine Bürger-Pflicht! Jch möchte von Ort zu Ort wandern und jene heilsame Unzufriedenheit, welche die Mutter aller Reformen ist, in die Herzen der Frauen pflanzen, und ihr schlummerndes Gewissen möchte ich aufrütteln, daß es sich seiner Verantwortlichkeit für alles Elend in der Welt bewußt wird. Aber noch ein anderes starkes Gefühl, das alle diejenigen beseelte, welche der Menschheit dienten, muß in den Herzen mächtig werden: der Glaube, daß das Glück aller Menschen möglich ist. Je stärker wir unseren Willen auf dieses Ziel richten, desto energischer werden wir verlangen, auf gesetzlichem Wege unseren Willen geltend machen zu dürfen. Viele — und unter den Vielen auch solche Frauen, die in der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung stehen, — meinen, das weibliche Geschlecht sei noch nicht reif zur Freiheit; es würde nicht verstehen, die Rechte, die man ihm giebt, zu be- nutzen; es sei für das öffentliche Leben noch nicht erzogen. Kant, der größte Philosoph Deutschlands, hat schon vor

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/23>, abgerufen am 21.11.2024.