Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Berlin, [1744].Laß ihn -- Doris! welch ein Schrekken! Siehst du wol den armen Vogel? Siehst du wol? er ist gestorben. Die betrübte Todtenfarbe Dekkt den Schnabel und die Augen. Must er denn so schnell erblassen? Gestern sang er noch so munter. Zwölf gelehrte Stimmenkenner Priesen gestern seine Stimme. Unter seinen hellen Tönen Klang kein Ton, wie Trauertöne. Warum sang er denn nicht traurig? Wollt' er etwa, wie ein Weiser, Seinem Tod entgegen scherzen? Ja, er wollt' es, dir zu gleichen, Denn er war ein weiser Vogel, Und es ist die Art der Weisen, Daß sie leben, wenn sie können, Daß sie lachen, wenn sie sterben. Warum sah' ich ihn nicht sterben? Seine letzten frohen Töne Hätt' ich, so wie sie erschallten, Schnell auf Noten setzen wollen, Daß du einst mit seinem Liede, Gleich,
Laß ihn ‒‒ Doris! welch ein Schrekken! Siehſt du wol den armen Vogel? Siehſt du wol? er iſt geſtorben. Die betruͤbte Todtenfarbe Dekkt den Schnabel und die Augen. Muſt er denn ſo ſchnell erblaſſen? Geſtern ſang er noch ſo munter. Zwoͤlf gelehrte Stimmenkenner Prieſen geſtern ſeine Stimme. Unter ſeinen hellen Toͤnen Klang kein Ton, wie Trauertoͤne. Warum ſang er denn nicht traurig? Wollt’ er etwa, wie ein Weiſer, Seinem Tod entgegen ſcherzen? Ja, er wollt’ es, dir zu gleichen, Denn er war ein weiſer Vogel, Und es iſt die Art der Weiſen, Daß ſie leben, wenn ſie koͤnnen, Daß ſie lachen, wenn ſie ſterben. Warum ſah’ ich ihn nicht ſterben? Seine letzten frohen Toͤne Haͤtt’ ich, ſo wie ſie erſchallten, Schnell auf Noten ſetzen wollen, Daß du einſt mit ſeinem Liede, Gleich,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0080" n="68"/> <l>Laß ihn ‒‒ Doris! welch ein Schrekken!</l><lb/> <l>Siehſt du wol den armen Vogel?</l><lb/> <l>Siehſt du wol? er iſt geſtorben.</l><lb/> <l>Die betruͤbte Todtenfarbe</l><lb/> <l>Dekkt den Schnabel und die Augen.</l><lb/> <l>Muſt er denn ſo ſchnell erblaſſen?</l><lb/> <l>Geſtern ſang er noch ſo munter.</l><lb/> <l>Zwoͤlf gelehrte Stimmenkenner</l><lb/> <l>Prieſen geſtern ſeine Stimme.</l><lb/> <l>Unter ſeinen hellen Toͤnen</l><lb/> <l>Klang kein Ton, wie Trauertoͤne.</l><lb/> <l>Warum ſang er denn nicht traurig?</l><lb/> <l>Wollt’ er etwa, wie ein Weiſer,</l><lb/> <l>Seinem Tod entgegen ſcherzen?</l><lb/> <l>Ja, er wollt’ es, dir zu gleichen,</l><lb/> <l>Denn er war ein weiſer Vogel,</l><lb/> <l>Und es iſt die Art der Weiſen,</l><lb/> <l>Daß ſie leben, wenn ſie koͤnnen,</l><lb/> <l>Daß ſie lachen, wenn ſie ſterben.</l><lb/> <l>Warum ſah’ ich ihn nicht ſterben?</l><lb/> <l>Seine letzten frohen Toͤne</l><lb/> <l>Haͤtt’ ich, ſo wie ſie erſchallten,</l><lb/> <l>Schnell auf Noten ſetzen wollen,</l><lb/> <l>Daß du einſt mit ſeinem Liede,</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Gleich,</fw><lb/> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [68/0080]
Laß ihn ‒‒ Doris! welch ein Schrekken!
Siehſt du wol den armen Vogel?
Siehſt du wol? er iſt geſtorben.
Die betruͤbte Todtenfarbe
Dekkt den Schnabel und die Augen.
Muſt er denn ſo ſchnell erblaſſen?
Geſtern ſang er noch ſo munter.
Zwoͤlf gelehrte Stimmenkenner
Prieſen geſtern ſeine Stimme.
Unter ſeinen hellen Toͤnen
Klang kein Ton, wie Trauertoͤne.
Warum ſang er denn nicht traurig?
Wollt’ er etwa, wie ein Weiſer,
Seinem Tod entgegen ſcherzen?
Ja, er wollt’ es, dir zu gleichen,
Denn er war ein weiſer Vogel,
Und es iſt die Art der Weiſen,
Daß ſie leben, wenn ſie koͤnnen,
Daß ſie lachen, wenn ſie ſterben.
Warum ſah’ ich ihn nicht ſterben?
Seine letzten frohen Toͤne
Haͤtt’ ich, ſo wie ſie erſchallten,
Schnell auf Noten ſetzen wollen,
Daß du einſt mit ſeinem Liede,
Gleich,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |