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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791.

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1. Buch. 8. Tit. §. 172.
betastet werden können, (quae tangi non possunt) oder
wie Theophilus 83) sagt, die keinen Gegenstand des
Berührens mit den Händen und des Sehens abgeben.
Ob diese Begriffe von den Stoikern entlehnt sind, unter-
sucht Meister 84) in der unten angeführten Schrift.
Man sagt gemeiniglich, daß die Stoiker alle sinnliche
Empfindung auf das Gefühl (tactum) zurückgeführet
hätten; allein daß dieselben nur einen Sinn angenom-
men haben sollten, darf man deswegen noch nicht glau-
ben. Denn Plutarch 85) lehrt uns, daß die Stoiker
deren gleichfalls fünf gezählet, und nur denjenigen, wel-
cher durch ein Berühren mit der Hand geschiehet, tactum
kat ezskhen genennet hätten. Sie nannten daher körper-
lich
alles dasjenige, was mit Sinnen empfunden wer-
den kann; alles andere aber, was einer sinnlichen Em-
pfindung unfähig ist, unkörperlich 86). Nicht zu läug-
nen ist jedoch, daß die alten Philosophen in der engsten
Bedeutung diejenigen Sachen körperliche genennt ha-

ben,
83) incorporale (asomaton) vero est, quod sola mente co-
gnoscitur, nec tactui et visui subest
(oute de aPhe e thea
upopiptei).
84) Chr. Frid. Ge. meisteri Progr. de philosophia ICtorum
Romanor. stoica in doctrina de corporibus eorumque partibus.
In eius select. opusc. syllog. I. N. X. pag.
507--563.
85) de Placitis philosophor. Lib. IV. cap. 10. pag. 106. (edit.
corsini Florentiae
1750.)
86) seneca lib. VIII. Epist. 59. sagt: Quod est, aut corpo-
rale est, aut incorporale;
und bald hernach beschreibt er letz-
teres mit Plato folgendermaßen, illud, quod nec visu, nec
tactu nec ullo sensuum comprehenditur
Ebenderselbe
sagt an einem andern Orte, Lib XVIII. Epist. 107. Nun-
quid est dubium, an id, quo quid tangi potest, corpus sit?
Tangere enim et tangi, nisi corpus, nulla potest res, ut ait
Lucretius.

1. Buch. 8. Tit. §. 172.
betaſtet werden koͤnnen, (quae tangi non poſſunt) oder
wie Theophilus 83) ſagt, die keinen Gegenſtand des
Beruͤhrens mit den Haͤnden und des Sehens abgeben.
Ob dieſe Begriffe von den Stoikern entlehnt ſind, unter-
ſucht Meiſter 84) in der unten angefuͤhrten Schrift.
Man ſagt gemeiniglich, daß die Stoiker alle ſinnliche
Empfindung auf das Gefuͤhl (tactum) zuruͤckgefuͤhret
haͤtten; allein daß dieſelben nur einen Sinn angenom-
men haben ſollten, darf man deswegen noch nicht glau-
ben. Denn Plutarch 85) lehrt uns, daß die Stoiker
deren gleichfalls fuͤnf gezaͤhlet, und nur denjenigen, wel-
cher durch ein Beruͤhren mit der Hand geſchiehet, tactum
κατ εζσχην genennet haͤtten. Sie nannten daher koͤrper-
lich
alles dasjenige, was mit Sinnen empfunden wer-
den kann; alles andere aber, was einer ſinnlichen Em-
pfindung unfaͤhig iſt, unkoͤrperlich 86). Nicht zu laͤug-
nen iſt jedoch, daß die alten Philoſophen in der engſten
Bedeutung diejenigen Sachen koͤrperliche genennt ha-

ben,
83) incorporale (ἀσώματον) vero eſt, quod ſola mente co-
gnoſcitur, nec tactui et viſui ſubeſt
(οὔτε δε ἀΦῇ ἤ ϑέᾳ
ὑποπιπτει).
84) Chr. Frid. Ge. meisteri Progr. de philoſophia ICtorum
Romanor. ſtoica in doctrina de corporibus eorumque partibus.
In eius ſelect. opuſc. ſyllog. I. N. X. pag.
507—563.
85) de Placitis philoſophor. Lib. IV. cap. 10. pag. 106. (edit.
corsini Florentiae
1750.)
86) seneca lib. VIII. Epiſt. 59. ſagt: Quod eſt, aut corpo-
rale eſt, aut incorporale;
und bald hernach beſchreibt er letz-
teres mit Plato folgendermaßen, illud, quod nec viſu, nec
tactu nec ullo ſenſuum comprehenditur
Ebenderſelbe
ſagt an einem andern Orte, Lib XVIII. Epiſt. 107. Nun-
quid eſt dubium, an id, quo quid tangi poteſt, corpus ſit?
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Lucretius.
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[458/0472] 1. Buch. 8. Tit. §. 172. betaſtet werden koͤnnen, (quae tangi non poſſunt) oder wie Theophilus 83) ſagt, die keinen Gegenſtand des Beruͤhrens mit den Haͤnden und des Sehens abgeben. Ob dieſe Begriffe von den Stoikern entlehnt ſind, unter- ſucht Meiſter 84) in der unten angefuͤhrten Schrift. Man ſagt gemeiniglich, daß die Stoiker alle ſinnliche Empfindung auf das Gefuͤhl (tactum) zuruͤckgefuͤhret haͤtten; allein daß dieſelben nur einen Sinn angenom- men haben ſollten, darf man deswegen noch nicht glau- ben. Denn Plutarch 85) lehrt uns, daß die Stoiker deren gleichfalls fuͤnf gezaͤhlet, und nur denjenigen, wel- cher durch ein Beruͤhren mit der Hand geſchiehet, tactum κατ εζσχην genennet haͤtten. Sie nannten daher koͤrper- lich alles dasjenige, was mit Sinnen empfunden wer- den kann; alles andere aber, was einer ſinnlichen Em- pfindung unfaͤhig iſt, unkoͤrperlich 86). Nicht zu laͤug- nen iſt jedoch, daß die alten Philoſophen in der engſten Bedeutung diejenigen Sachen koͤrperliche genennt ha- ben, 83) incorporale (ἀσώματον) vero eſt, quod ſola mente co- gnoſcitur, nec tactui et viſui ſubeſt (οὔτε δε ἀΦῇ ἤ ϑέᾳ ὑποπιπτει). 84) Chr. Frid. Ge. meisteri Progr. de philoſophia ICtorum Romanor. ſtoica in doctrina de corporibus eorumque partibus. In eius ſelect. opuſc. ſyllog. I. N. X. pag. 507—563. 85) de Placitis philoſophor. Lib. IV. cap. 10. pag. 106. (edit. corsini Florentiae 1750.) 86) seneca lib. VIII. Epiſt. 59. ſagt: Quod eſt, aut corpo- rale eſt, aut incorporale; und bald hernach beſchreibt er letz- teres mit Plato folgendermaßen, illud, quod nec viſu, nec tactu nec ullo ſenſuum comprehenditur Ebenderſelbe ſagt an einem andern Orte, Lib XVIII. Epiſt. 107. Nun- quid eſt dubium, an id, quo quid tangi poteſt, corpus ſit? Tangere enim et tangi, niſi corpus, nulla poteſt res, ut ait Lucretius.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791/472>, abgerufen am 20.05.2024.