Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Inzwischen waren die Glocken verstummt, ein Zeichen, daß die Procession, die zur Vorfeier jedes Dorffestes gehört, die Kirche verlassen hatte. Bald darauf ließ sich fernes Singen vernehmen, es kam näher und näher, und Alle, die nicht zur Messe gegangen waren, traten vor die Hausthüren, um wenigstens den Zug zu sehen. Auch Francois war unter den Zuschauern; er hatte gethan, was er konnte, um sich selbst Wort zu halten. Mit steigender Erbitterung hatte er sich an jedes kränkende Wort erinnert, das ihm Claudine je gesagt, war ihr vor der Kirche ausgewichen, hatte während der Messe seinen Platz hinter einem Pfeiler gewählt, der sie seinen Blicken vollständig verbarg, und war, als die Gemeinde zur Procession antrat, davongegangen. Andächtig konnte er heute doch nicht sein, und er wollte sich die Pein ersparen, Claudine wie in vergangenen guten Zeiten in der Reihe der Mädchen vor sich hergehen zu sehen. Aber er sah sie doch und sah nur sie, als jetzt der Zug mit schimmernden Fahnen, von Weihrauch umwallt, von der Dorfstraße unter die Bäume des Platzes bog. Ihr weißes Capuchon war zurückgesunken, goldige Sonnenfunken lagen auf dem braunen, gescheitelten Haar und der gesenkten Stirn. Mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, ging sie dahin, als wäre sie allein, indeß ihre Gefährtinnen neugierig kokett umherblickten Inzwischen waren die Glocken verstummt, ein Zeichen, daß die Procession, die zur Vorfeier jedes Dorffestes gehört, die Kirche verlassen hatte. Bald darauf ließ sich fernes Singen vernehmen, es kam näher und näher, und Alle, die nicht zur Messe gegangen waren, traten vor die Hausthüren, um wenigstens den Zug zu sehen. Auch François war unter den Zuschauern; er hatte gethan, was er konnte, um sich selbst Wort zu halten. Mit steigender Erbitterung hatte er sich an jedes kränkende Wort erinnert, das ihm Claudine je gesagt, war ihr vor der Kirche ausgewichen, hatte während der Messe seinen Platz hinter einem Pfeiler gewählt, der sie seinen Blicken vollständig verbarg, und war, als die Gemeinde zur Procession antrat, davongegangen. Andächtig konnte er heute doch nicht sein, und er wollte sich die Pein ersparen, Claudine wie in vergangenen guten Zeiten in der Reihe der Mädchen vor sich hergehen zu sehen. Aber er sah sie doch und sah nur sie, als jetzt der Zug mit schimmernden Fahnen, von Weihrauch umwallt, von der Dorfstraße unter die Bäume des Platzes bog. Ihr weißes Capuchon war zurückgesunken, goldige Sonnenfunken lagen auf dem braunen, gescheitelten Haar und der gesenkten Stirn. Mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, ging sie dahin, als wäre sie allein, indeß ihre Gefährtinnen neugierig kokett umherblickten <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <pb facs="#f0031"/> <p>Inzwischen waren die Glocken verstummt, ein Zeichen, daß die Procession, die zur Vorfeier jedes Dorffestes gehört, die Kirche verlassen hatte. Bald darauf ließ sich fernes Singen vernehmen, es kam näher und näher, und Alle, die nicht zur Messe gegangen waren, traten vor die Hausthüren, um wenigstens den Zug zu sehen.</p><lb/> <p>Auch François war unter den Zuschauern; er hatte gethan, was er konnte, um sich selbst Wort zu halten. Mit steigender Erbitterung hatte er sich an jedes kränkende Wort erinnert, das ihm Claudine je gesagt, war ihr vor der Kirche ausgewichen, hatte während der Messe seinen Platz hinter einem Pfeiler gewählt, der sie seinen Blicken vollständig verbarg, und war, als die Gemeinde zur Procession antrat, davongegangen. Andächtig konnte er heute doch nicht sein, und er wollte sich die Pein ersparen, Claudine wie in vergangenen guten Zeiten in der Reihe der Mädchen vor sich hergehen zu sehen.</p><lb/> <p>Aber er sah sie doch und sah nur sie, als jetzt der Zug mit schimmernden Fahnen, von Weihrauch umwallt, von der Dorfstraße unter die Bäume des Platzes bog. Ihr weißes Capuchon war zurückgesunken, goldige Sonnenfunken lagen auf dem braunen, gescheitelten Haar und der gesenkten Stirn. Mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, ging sie dahin, als wäre sie allein, indeß ihre Gefährtinnen neugierig kokett umherblickten<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0031]
Inzwischen waren die Glocken verstummt, ein Zeichen, daß die Procession, die zur Vorfeier jedes Dorffestes gehört, die Kirche verlassen hatte. Bald darauf ließ sich fernes Singen vernehmen, es kam näher und näher, und Alle, die nicht zur Messe gegangen waren, traten vor die Hausthüren, um wenigstens den Zug zu sehen.
Auch François war unter den Zuschauern; er hatte gethan, was er konnte, um sich selbst Wort zu halten. Mit steigender Erbitterung hatte er sich an jedes kränkende Wort erinnert, das ihm Claudine je gesagt, war ihr vor der Kirche ausgewichen, hatte während der Messe seinen Platz hinter einem Pfeiler gewählt, der sie seinen Blicken vollständig verbarg, und war, als die Gemeinde zur Procession antrat, davongegangen. Andächtig konnte er heute doch nicht sein, und er wollte sich die Pein ersparen, Claudine wie in vergangenen guten Zeiten in der Reihe der Mädchen vor sich hergehen zu sehen.
Aber er sah sie doch und sah nur sie, als jetzt der Zug mit schimmernden Fahnen, von Weihrauch umwallt, von der Dorfstraße unter die Bäume des Platzes bog. Ihr weißes Capuchon war zurückgesunken, goldige Sonnenfunken lagen auf dem braunen, gescheitelten Haar und der gesenkten Stirn. Mit ernster Miene und niedergeschlagenen Augen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, ging sie dahin, als wäre sie allein, indeß ihre Gefährtinnen neugierig kokett umherblickten
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