Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Claudine, daß ich so von ihr rede, und höre mir geduldig noch ein Weilchen zu. Fast ein Jahr war ich wieder zu Haus in den Bergen. Der Sommer hatte heiße Tage gebracht, und ganz erschöpft kam ich eines Nachmittages bei der Waldhütte an. Von der Mariannette und dem Kinde war nichts zu sehen, nur Pierret der Wolfshund, lag vor der Thür, und ich hätte keinem Fremden rathen wollen, sich derselben zu nähern. Mich ließ er natürlich passiren; ich suchte mir einen Bissen Metturo (Maisbrod) und warf mich dann auf meinen Laubsack in der Nebenkammer, wo ich sogleich einschlief. Als ich aufwachte, war die Mariannette nach Haus gekommen; ich hörte sie lamentiren, und dann antwortete eine andere Stimme, in der ich die der Müllerin Vidal erkannte. Aber meine Schlaftrunkenheit war so groß, daß ich eine ganze Weile nicht verstand, was gesprochen wurde, bis die Mariannette sagte: Das ist wider die Abrede Müllerin; Ihr habt versprochen, mir das Kind zu lassen, bis es fünf Jahre alt ist. Nehmt doch Vernunft an! fiel die Müllerin ein, mein kranker Mann verlangt nach der Kleinen, und wir müssen ihm den Willen thun. Ich kann's nicht! ich will's nicht! rief die Mariannette und brach in Thränen aus. Wie wollt Ihr mich zwingen, wenn ich Euch den Handel aussage? wenn ich erkläre, daß Eure Claudine auf dem Kirchhofe liegt und daß dies mein Kind ist? Claudine, daß ich so von ihr rede, und höre mir geduldig noch ein Weilchen zu. Fast ein Jahr war ich wieder zu Haus in den Bergen. Der Sommer hatte heiße Tage gebracht, und ganz erschöpft kam ich eines Nachmittages bei der Waldhütte an. Von der Mariannette und dem Kinde war nichts zu sehen, nur Pierret der Wolfshund, lag vor der Thür, und ich hätte keinem Fremden rathen wollen, sich derselben zu nähern. Mich ließ er natürlich passiren; ich suchte mir einen Bissen Metturo (Maisbrod) und warf mich dann auf meinen Laubsack in der Nebenkammer, wo ich sogleich einschlief. Als ich aufwachte, war die Mariannette nach Haus gekommen; ich hörte sie lamentiren, und dann antwortete eine andere Stimme, in der ich die der Müllerin Vidal erkannte. Aber meine Schlaftrunkenheit war so groß, daß ich eine ganze Weile nicht verstand, was gesprochen wurde, bis die Mariannette sagte: Das ist wider die Abrede Müllerin; Ihr habt versprochen, mir das Kind zu lassen, bis es fünf Jahre alt ist. Nehmt doch Vernunft an! fiel die Müllerin ein, mein kranker Mann verlangt nach der Kleinen, und wir müssen ihm den Willen thun. Ich kann's nicht! ich will's nicht! rief die Mariannette und brach in Thränen aus. Wie wollt Ihr mich zwingen, wenn ich Euch den Handel aussage? wenn ich erkläre, daß Eure Claudine auf dem Kirchhofe liegt und daß dies mein Kind ist? <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0061"/> Claudine, daß ich so von ihr rede, und höre mir geduldig noch ein Weilchen zu.</p><lb/> <p>Fast ein Jahr war ich wieder zu Haus in den Bergen. Der Sommer hatte heiße Tage gebracht, und ganz erschöpft kam ich eines Nachmittages bei der Waldhütte an. Von der Mariannette und dem Kinde war nichts zu sehen, nur Pierret der Wolfshund, lag vor der Thür, und ich hätte keinem Fremden rathen wollen, sich derselben zu nähern. Mich ließ er natürlich passiren; ich suchte mir einen Bissen Metturo (Maisbrod) und warf mich dann auf meinen Laubsack in der Nebenkammer, wo ich sogleich einschlief.</p><lb/> <p>Als ich aufwachte, war die Mariannette nach Haus gekommen; ich hörte sie lamentiren, und dann antwortete eine andere Stimme, in der ich die der Müllerin Vidal erkannte. Aber meine Schlaftrunkenheit war so groß, daß ich eine ganze Weile nicht verstand, was gesprochen wurde, bis die Mariannette sagte: Das ist wider die Abrede Müllerin; Ihr habt versprochen, mir das Kind zu lassen, bis es fünf Jahre alt ist.</p><lb/> <p>Nehmt doch Vernunft an! fiel die Müllerin ein, mein kranker Mann verlangt nach der Kleinen, und wir müssen ihm den Willen thun.</p><lb/> <p>Ich kann's nicht! ich will's nicht! rief die Mariannette und brach in Thränen aus. Wie wollt Ihr mich zwingen, wenn ich Euch den Handel aussage? wenn ich erkläre, daß Eure Claudine auf dem Kirchhofe liegt und daß dies mein Kind ist?</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0061]
Claudine, daß ich so von ihr rede, und höre mir geduldig noch ein Weilchen zu.
Fast ein Jahr war ich wieder zu Haus in den Bergen. Der Sommer hatte heiße Tage gebracht, und ganz erschöpft kam ich eines Nachmittages bei der Waldhütte an. Von der Mariannette und dem Kinde war nichts zu sehen, nur Pierret der Wolfshund, lag vor der Thür, und ich hätte keinem Fremden rathen wollen, sich derselben zu nähern. Mich ließ er natürlich passiren; ich suchte mir einen Bissen Metturo (Maisbrod) und warf mich dann auf meinen Laubsack in der Nebenkammer, wo ich sogleich einschlief.
Als ich aufwachte, war die Mariannette nach Haus gekommen; ich hörte sie lamentiren, und dann antwortete eine andere Stimme, in der ich die der Müllerin Vidal erkannte. Aber meine Schlaftrunkenheit war so groß, daß ich eine ganze Weile nicht verstand, was gesprochen wurde, bis die Mariannette sagte: Das ist wider die Abrede Müllerin; Ihr habt versprochen, mir das Kind zu lassen, bis es fünf Jahre alt ist.
Nehmt doch Vernunft an! fiel die Müllerin ein, mein kranker Mann verlangt nach der Kleinen, und wir müssen ihm den Willen thun.
Ich kann's nicht! ich will's nicht! rief die Mariannette und brach in Thränen aus. Wie wollt Ihr mich zwingen, wenn ich Euch den Handel aussage? wenn ich erkläre, daß Eure Claudine auf dem Kirchhofe liegt und daß dies mein Kind ist?
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Zitationshilfe: | Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gluemer_arm_1910/61>, abgerufen am 16.02.2025. |