Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Als die Müllerin schwieg, fragte ich die Mariannette, was sie zu ihrer Vertheidigung zusagen hätte? aber sie schluchzte nur und drückte die Schürze fester an die Augen, bis das Kind, das draußen gespielt hatte, hereinkam, auf sie zu lief und sich mit den kleinen Händen an ihren Rock klammerte. Da sprang sie auf, sah mit verstörten Blicken umher, rief: die Müllerin solle die Kleine gleich mit fortnehmen, sie wolle weder das Kind noch irgend Jemand von der Vidal'schen Sippe wiedersehen. Mit diesen Worten lief sie zur Thür hinaus und geradeswegs in den Wald hinein. Ich eilte hinterdrein, weil ich fürchtete, daß sie sich ein Leid anthun könnte, und fand sie im Gebüsch am Boden liegen. Vergebens redete ich ihr zu, bat sie, mir Alles zu erzählen, versprach, ihr beizustehen, wenn ihr Unrecht widerfahren wäre. Sie schien nicht auf mich zu hören, that nichts als weinen, und es währte lange, ehe ich sie dazu brachte, wieder nach Haus zu gehen. Hier aber, wo ich fürchtete, daß der Jammer von Neuem losbrechen würde, weil inzwischen die Müllerin mit dem Kinde fortgegangen war, wurde sie auf einmal ruhig. Ich kanns nicht ändern, sagte sie; thu du mir nur die Liebe und sprich nicht mehr davon. Sie hat seitdem den Namen Claudine nicht wieder genannt; dagegen erzählte sie beständig von Jeannette; ob sie das todte Kind oder Claudine damit meinte, habe ich aber nie herausgefunden und habe Jahre und Jahre ge- Als die Müllerin schwieg, fragte ich die Mariannette, was sie zu ihrer Vertheidigung zusagen hätte? aber sie schluchzte nur und drückte die Schürze fester an die Augen, bis das Kind, das draußen gespielt hatte, hereinkam, auf sie zu lief und sich mit den kleinen Händen an ihren Rock klammerte. Da sprang sie auf, sah mit verstörten Blicken umher, rief: die Müllerin solle die Kleine gleich mit fortnehmen, sie wolle weder das Kind noch irgend Jemand von der Vidal'schen Sippe wiedersehen. Mit diesen Worten lief sie zur Thür hinaus und geradeswegs in den Wald hinein. Ich eilte hinterdrein, weil ich fürchtete, daß sie sich ein Leid anthun könnte, und fand sie im Gebüsch am Boden liegen. Vergebens redete ich ihr zu, bat sie, mir Alles zu erzählen, versprach, ihr beizustehen, wenn ihr Unrecht widerfahren wäre. Sie schien nicht auf mich zu hören, that nichts als weinen, und es währte lange, ehe ich sie dazu brachte, wieder nach Haus zu gehen. Hier aber, wo ich fürchtete, daß der Jammer von Neuem losbrechen würde, weil inzwischen die Müllerin mit dem Kinde fortgegangen war, wurde sie auf einmal ruhig. Ich kanns nicht ändern, sagte sie; thu du mir nur die Liebe und sprich nicht mehr davon. Sie hat seitdem den Namen Claudine nicht wieder genannt; dagegen erzählte sie beständig von Jeannette; ob sie das todte Kind oder Claudine damit meinte, habe ich aber nie herausgefunden und habe Jahre und Jahre ge- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0063"/> <p>Als die Müllerin schwieg, fragte ich die Mariannette, was sie zu ihrer Vertheidigung zusagen hätte? aber sie schluchzte nur und drückte die Schürze fester an die Augen, bis das Kind, das draußen gespielt hatte, hereinkam, auf sie zu lief und sich mit den kleinen Händen an ihren Rock klammerte. Da sprang sie auf, sah mit verstörten Blicken umher, rief: die Müllerin solle die Kleine gleich mit fortnehmen, sie wolle weder das Kind noch irgend Jemand von der Vidal'schen Sippe wiedersehen. Mit diesen Worten lief sie zur Thür hinaus und geradeswegs in den Wald hinein.</p><lb/> <p>Ich eilte hinterdrein, weil ich fürchtete, daß sie sich ein Leid anthun könnte, und fand sie im Gebüsch am Boden liegen. Vergebens redete ich ihr zu, bat sie, mir Alles zu erzählen, versprach, ihr beizustehen, wenn ihr Unrecht widerfahren wäre. Sie schien nicht auf mich zu hören, that nichts als weinen, und es währte lange, ehe ich sie dazu brachte, wieder nach Haus zu gehen. Hier aber, wo ich fürchtete, daß der Jammer von Neuem losbrechen würde, weil inzwischen die Müllerin mit dem Kinde fortgegangen war, wurde sie auf einmal ruhig.</p><lb/> <p>Ich kanns nicht ändern, sagte sie; thu du mir nur die Liebe und sprich nicht mehr davon. Sie hat seitdem den Namen Claudine nicht wieder genannt; dagegen erzählte sie beständig von Jeannette; ob sie das todte Kind oder Claudine damit meinte, habe ich aber nie herausgefunden und habe Jahre und Jahre ge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0063]
Als die Müllerin schwieg, fragte ich die Mariannette, was sie zu ihrer Vertheidigung zusagen hätte? aber sie schluchzte nur und drückte die Schürze fester an die Augen, bis das Kind, das draußen gespielt hatte, hereinkam, auf sie zu lief und sich mit den kleinen Händen an ihren Rock klammerte. Da sprang sie auf, sah mit verstörten Blicken umher, rief: die Müllerin solle die Kleine gleich mit fortnehmen, sie wolle weder das Kind noch irgend Jemand von der Vidal'schen Sippe wiedersehen. Mit diesen Worten lief sie zur Thür hinaus und geradeswegs in den Wald hinein.
Ich eilte hinterdrein, weil ich fürchtete, daß sie sich ein Leid anthun könnte, und fand sie im Gebüsch am Boden liegen. Vergebens redete ich ihr zu, bat sie, mir Alles zu erzählen, versprach, ihr beizustehen, wenn ihr Unrecht widerfahren wäre. Sie schien nicht auf mich zu hören, that nichts als weinen, und es währte lange, ehe ich sie dazu brachte, wieder nach Haus zu gehen. Hier aber, wo ich fürchtete, daß der Jammer von Neuem losbrechen würde, weil inzwischen die Müllerin mit dem Kinde fortgegangen war, wurde sie auf einmal ruhig.
Ich kanns nicht ändern, sagte sie; thu du mir nur die Liebe und sprich nicht mehr davon. Sie hat seitdem den Namen Claudine nicht wieder genannt; dagegen erzählte sie beständig von Jeannette; ob sie das todte Kind oder Claudine damit meinte, habe ich aber nie herausgefunden und habe Jahre und Jahre ge-
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Zitationshilfe: | Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gluemer_arm_1910/63>, abgerufen am 16.02.2025. |