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Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819.

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wurde endlich jene Bundesakte in ihrer blassen, farb¬
losen Allgemeinheit angenommen, die, was die Ge¬
schichte noch nicht gekannt, einen Rath berief, wo
nicht die Mehrheit der Stimmen galt, sondern allein
völlige Einstimmigkeit entschied. Eine reine Democratie,
deren Demos aus Höfen der verschiedensten Gesinnungen,
Interessen und Machtverhältnisse sich zusammensetzt; eine
Centralgewalt, die nicht über sondern unter den inbe¬
griffenen Theilen steht; eine vollziehende Macht, die
eine Ohnmacht ist, und, weil sie gegen den Nichtein¬
willigenden nicht einschreiten kann, gar nirgend etwas
zu vollziehen im Stande sich befindet, weil sie nimmer
die fehlende Stimme zur Execution erlangen wird;
eine gesetzgebende Gewalt, die ihre eigene Competenz
nimmer ergründen mag, und eine Richterliche, der
niemand Folge zu leisten gehalten ist, wo alle Akte
der Autorität durch ein ewiges Diplomatisiren immer
gesucht und nimmer gefunden werden: eine solche Ver¬
fassung, wenn sie gelang, mußte den Völkern zum
schlagenden Beweise der gänzlichen Entbehrlichkeit aller
Regierung werden, und nur Teutsche, an Hoffnun¬
gen nie verarmend, mochten es mit ihr versuchen.

Aber die Tochter konnte die Mutter nicht verläug¬
nen, die sie geboren; jene Theorie wechselseitiger Apathie
und Nichthandlung auf die verworrenen Verhältnisse
Teutschlands angewendet, wo die Umstände gebiethe¬
risch ein positives Wirken, ein lebendiges Eingreifen,
und ein wohl verständigtes Thun verlangten, mußte
nothwendig verderblich sich erweisen. Jene Grundsätze,
die bey der ersten Bildung des Werks geherrscht,
mußten sich auch in ihm fortschreitend wiedergebähren,

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wurde endlich jene Bundesakte in ihrer blaſſen, farb¬
loſen Allgemeinheit angenommen, die, was die Ge¬
ſchichte noch nicht gekannt, einen Rath berief, wo
nicht die Mehrheit der Stimmen galt, ſondern allein
völlige Einſtimmigkeit entſchied. Eine reine Democratie,
deren Demos aus Höfen der verſchiedenſten Geſinnungen,
Intereſſen und Machtverhältniſſe ſich zuſammenſetzt; eine
Centralgewalt, die nicht über ſondern unter den inbe¬
griffenen Theilen ſteht; eine vollziehende Macht, die
eine Ohnmacht iſt, und, weil ſie gegen den Nichtein¬
willigenden nicht einſchreiten kann, gar nirgend etwas
zu vollziehen im Stande ſich befindet, weil ſie nimmer
die fehlende Stimme zur Execution erlangen wird;
eine geſetzgebende Gewalt, die ihre eigene Competenz
nimmer ergründen mag, und eine Richterliche, der
niemand Folge zu leiſten gehalten iſt, wo alle Akte
der Autorität durch ein ewiges Diplomatiſiren immer
geſucht und nimmer gefunden werden: eine ſolche Ver¬
faſſung, wenn ſie gelang, mußte den Völkern zum
ſchlagenden Beweiſe der gänzlichen Entbehrlichkeit aller
Regierung werden, und nur Teutſche, an Hoffnun¬
gen nie verarmend, mochten es mit ihr verſuchen.

Aber die Tochter konnte die Mutter nicht verläug¬
nen, die ſie geboren; jene Theorie wechſelſeitiger Apathie
und Nichthandlung auf die verworrenen Verhältniſſe
Teutſchlands angewendet, wo die Umſtände gebiethe¬
riſch ein poſitives Wirken, ein lebendiges Eingreifen,
und ein wohl verſtändigtes Thun verlangten, mußte
nothwendig verderblich ſich erweiſen. Jene Grundſätze,
die bey der erſten Bildung des Werks geherrſcht,
mußten ſich auch in ihm fortſchreitend wiedergebähren,

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[19/0027] wurde endlich jene Bundesakte in ihrer blaſſen, farb¬ loſen Allgemeinheit angenommen, die, was die Ge¬ ſchichte noch nicht gekannt, einen Rath berief, wo nicht die Mehrheit der Stimmen galt, ſondern allein völlige Einſtimmigkeit entſchied. Eine reine Democratie, deren Demos aus Höfen der verſchiedenſten Geſinnungen, Intereſſen und Machtverhältniſſe ſich zuſammenſetzt; eine Centralgewalt, die nicht über ſondern unter den inbe¬ griffenen Theilen ſteht; eine vollziehende Macht, die eine Ohnmacht iſt, und, weil ſie gegen den Nichtein¬ willigenden nicht einſchreiten kann, gar nirgend etwas zu vollziehen im Stande ſich befindet, weil ſie nimmer die fehlende Stimme zur Execution erlangen wird; eine geſetzgebende Gewalt, die ihre eigene Competenz nimmer ergründen mag, und eine Richterliche, der niemand Folge zu leiſten gehalten iſt, wo alle Akte der Autorität durch ein ewiges Diplomatiſiren immer geſucht und nimmer gefunden werden: eine ſolche Ver¬ faſſung, wenn ſie gelang, mußte den Völkern zum ſchlagenden Beweiſe der gänzlichen Entbehrlichkeit aller Regierung werden, und nur Teutſche, an Hoffnun¬ gen nie verarmend, mochten es mit ihr verſuchen. Aber die Tochter konnte die Mutter nicht verläug¬ nen, die ſie geboren; jene Theorie wechſelſeitiger Apathie und Nichthandlung auf die verworrenen Verhältniſſe Teutſchlands angewendet, wo die Umſtände gebiethe¬ riſch ein poſitives Wirken, ein lebendiges Eingreifen, und ein wohl verſtändigtes Thun verlangten, mußte nothwendig verderblich ſich erweiſen. Jene Grundſätze, die bey der erſten Bildung des Werks geherrſcht, mußten ſich auch in ihm fortſchreitend wiedergebähren, 2*

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Zitationshilfe: Görres, Joseph von: Teutschland und die Revolution. Koblenz, 1819, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_revolution_1819/27>, abgerufen am 28.04.2024.