selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frey bleibt, desshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muss.
Aber nicht der Dichter allein erfreut sich solcher Verdienste, die ganze Nation ist geistreich, wie aus unzähligen Anecdo- ten hervortritt. Durch ein geistreiches Wort wird der Zorn eines Fürsten erregt, durch ein anderes wieder besänftigt. Neigung und Leidenschaft leben und weben in glei- chem Elemente; so erfinden Behramguhr und Dilara den Reim, Dschemil und Boteinah bleiben bis ins höchste Alter leidenschaft- lich verbunden. Die ganze Geschichte der persischen Dichtkunst wimmlet von solchen Fällen.
Wenn man bedenkt, dass Nuschirwan, einer der letzten Sassaniden, um die Zeit Mahomets mit ungeheuren Kosten die Fabeln des Bidpai und das Schachspiel aus Indien kommen lässt, so ist der Zustand einer sol- chen Zeit vollkommen ausgesprochen. Jene, nach dem zu urtheilen was uns überliefert ist, überbieten einander an Lebensklugheit und freyeren Ansichten irdischer Dinge. Dess- halb konnte vier Jahrhunderte später, selbst
selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frey bleibt, deſshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muſs.
Aber nicht der Dichter allein erfreut sich solcher Verdienste, die ganze Nation ist geistreich, wie aus unzähligen Anecdo- ten hervortritt. Durch ein geistreiches Wort wird der Zorn eines Fürsten erregt, durch ein anderes wieder besänftigt. Neigung und Leidenschaft leben und weben in glei- chem Elemente; so erfinden Behramguhr und Dilara den Reim, Dschemil und Boteinah bleiben bis ins höchste Alter leidenschaft- lich verbunden. Die ganze Geschichte der persischen Dichtkunst wimmlet von solchen Fällen.
Wenn man bedenkt, daſs Nuschirwan, einer der letzten Sassaniden, um die Zeit Mahomets mit ungeheuren Kosten die Fabeln des Bidpai und das Schachspiel aus Indien kommen läſst, so ist der Zustand einer sol- chen Zeit vollkommen ausgesprochen. Jene, nach dem zu urtheilen was uns überliefert ist, überbieten einander an Lebensklugheit und freyeren Ansichten irdischer Dinge. Deſs- halb konnte vier Jahrhunderte später, selbst
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selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist
ganz frey bleibt, deſshalb er auch überall
genialisch genannt werden kann und muſs.
Aber nicht der Dichter allein erfreut
sich solcher Verdienste, die ganze Nation
ist geistreich, wie aus unzähligen Anecdo-
ten hervortritt. Durch ein geistreiches Wort
wird der Zorn eines Fürsten erregt, durch
ein anderes wieder besänftigt. Neigung
und Leidenschaft leben und weben in glei-
chem Elemente; so erfinden Behramguhr und
Dilara den Reim, Dschemil und Boteinah
bleiben bis ins höchste Alter leidenschaft-
lich verbunden. Die ganze Geschichte der
persischen Dichtkunst wimmlet von solchen
Fällen.
Wenn man bedenkt, daſs Nuschirwan,
einer der letzten Sassaniden, um die Zeit
Mahomets mit ungeheuren Kosten die Fabeln
des Bidpai und das Schachspiel aus Indien
kommen läſst, so ist der Zustand einer sol-
chen Zeit vollkommen ausgesprochen. Jene,
nach dem zu urtheilen was uns überliefert ist,
überbieten einander an Lebensklugheit und
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/342>, abgerufen am 22.12.2024.
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