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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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lisiren, der Orient wird nicht zu uns her-
über kommen. Und obgleich Uebersetzun-
gen höchst löblich sind um uns anzulocken,
einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen
ersichtlich, dass in dieser Literatur die Spra-
che als Sprache die erste Rolle spielt. Wer
möchte sich nicht mit diesen Schätzen an
der Quelle bekannt machen!

Bedenken wir nun dass poetische Tech-
nik den grössten Einfluss auf jede Dich-
tungsweise nothwendig ausübe; so finden
wir auch hier dass die zweyzeilig gereim-
ten Verse der Orientalen einen Parallelis-
mus fordern, welcher aber, statt den Geist
zu sammeln, selben zerstreut, indem der
Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hin-
weist. Dadurch erhalten ihre Gedichte einen
Anstrich von Quodlibet, oder vorgeschrie-
benen Endreimen, in welcher Art etwas
Vorzügliches zu leisten freilich die ersten
Talente gefordert werden. Wie nun hier-
über die Nation streng geurtheilt hat, sieht
man daran, dass sie in fünf hundert Jahren
nur sieben Dichter als ihre Obersten aner-
kennt.


lisiren, der Orient wird nicht zu uns her-
über kommen. Und obgleich Uebersetzun-
gen höchst löblich sind um uns anzulocken,
einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen
ersichtlich, daſs in dieser Literatur die Spra-
che als Sprache die erste Rolle spielt. Wer
möchte sich nicht mit diesen Schätzen an
der Quelle bekannt machen!

Bedenken wir nun daſs poetische Tech-
nik den gröſsten Einfluſs auf jede Dich-
tungsweise nothwendig ausübe; so finden
wir auch hier daſs die zweyzeilig gereim-
ten Verse der Orientalen einen Parallelis-
mus fordern, welcher aber, statt den Geist
zu sammeln, selben zerstreut, indem der
Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hin-
weist. Dadurch erhalten ihre Gedichte einen
Anstrich von Quodlibet, oder vorgeschrie-
benen Endreimen, in welcher Art etwas
Vorzügliches zu leisten freilich die ersten
Talente gefordert werden. Wie nun hier-
über die Nation streng geurtheilt hat, sieht
man daran, daſs sie in fünf hundert Jahren
nur sieben Dichter als ihre Obersten aner-
kennt.


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[367/0377] lisiren, der Orient wird nicht zu uns her- über kommen. Und obgleich Uebersetzun- gen höchst löblich sind um uns anzulocken, einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen ersichtlich, daſs in dieser Literatur die Spra- che als Sprache die erste Rolle spielt. Wer möchte sich nicht mit diesen Schätzen an der Quelle bekannt machen! Bedenken wir nun daſs poetische Tech- nik den gröſsten Einfluſs auf jede Dich- tungsweise nothwendig ausübe; so finden wir auch hier daſs die zweyzeilig gereim- ten Verse der Orientalen einen Parallelis- mus fordern, welcher aber, statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut, indem der Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hin- weist. Dadurch erhalten ihre Gedichte einen Anstrich von Quodlibet, oder vorgeschrie- benen Endreimen, in welcher Art etwas Vorzügliches zu leisten freilich die ersten Talente gefordert werden. Wie nun hier- über die Nation streng geurtheilt hat, sieht man daran, daſs sie in fünf hundert Jahren nur sieben Dichter als ihre Obersten aner- kennt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/377>, abgerufen am 28.05.2024.