Poesie ist, rein und ächt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.
Die Redekunst aber, im eigentlichen Sinne, ist eine Rede und eine Kunst; sie beruht auf einer deutlichen, mässig leiden- schaftlichen Rede, und ist Kunst in jedem Sinne. Sie verfolgt ihre Zwecke und ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende. Durch jene von uns gerügte Rubrik ist nun die Poesie entwürdigt, indem sie der Redekunst bey- wo nicht untergeordnet wird, Namen und Ehre von ihr ableitet.
Diese Benennung und Eintheilung hat freylich Beyfall und Platz gewonnen, weil höchst schätzenswerthe Bücher sie an der Stirne tragen, und schwer möchte man sich derselben sobald entwöhnen. Ein solches Verfahren kommt aber daher, weil man,
Poesie ist, rein und ächt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.
Die Redekunst aber, im eigentlichen Sinne, ist eine Rede und eine Kunst; sie beruht auf einer deutlichen, mäſsig leiden- schaftlichen Rede, und ist Kunst in jedem Sinne. Sie verfolgt ihre Zwecke und ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende. Durch jene von uns gerügte Rubrik ist nun die Poesie entwürdigt, indem sie der Redekunst bey- wo nicht untergeordnet wird, Namen und Ehre von ihr ableitet.
Diese Benennung und Eintheilung hat freylich Beyfall und Platz gewonnen, weil höchst schätzenswerthe Bücher sie an der Stirne tragen, und schwer möchte man sich derselben sobald entwöhnen. Ein solches Verfahren kommt aber daher, weil man,
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Poesie ist, rein und ächt betrachtet,
weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil
sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang,
Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist
keine Kunst, weil alles auf dem Naturell
beruht, welches zwar geregelt, aber nicht
künstlerisch geängstiget werden darf; auch
bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines
aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und
Zweck.
Die Redekunst aber, im eigentlichen
Sinne, ist eine Rede und eine Kunst; sie
beruht auf einer deutlichen, mäſsig leiden-
schaftlichen Rede, und ist Kunst in jedem
Sinne. Sie verfolgt ihre Zwecke und ist
Verstellung vom Anfang bis zu Ende. Durch
jene von uns gerügte Rubrik ist nun die
Poesie entwürdigt, indem sie der Redekunst
bey- wo nicht untergeordnet wird, Namen
und Ehre von ihr ableitet.
Diese Benennung und Eintheilung hat
freylich Beyfall und Platz gewonnen, weil
höchst schätzenswerthe Bücher sie an der
Stirne tragen, und schwer möchte man sich
derselben sobald entwöhnen. Ein solches
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/388>, abgerufen am 22.12.2024.
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