denschaftliche Neigung des Kindes zum Greise ist keineswegs eine seltene, aber selten benutzte Erscheinung. Hier gewahre man den Bezug des Enkels zum Grossva- ter, des spätgebornen Erben zum über- raschten zärtlichen Vater. In diesem Ver- hältniss entwickelt sich eigentlich der Klugsinn der Kinder; sie sind aufmerksam auf Würde, Erfahrung, Gewalt des Aelte- ren; rein geborne Seelen empfinden dabey das Bedürfniss einer ehrfurchtsvollen Nei- gung; das Alter wird hievon ergriffen und festgehalten. Empfindet und benutzt die Jugend ihr Uebergewicht um kindliche Zwecke zu erreichen, kindische Bedürfnisse zu befriedigen, so versöhnt uns die An- muth mit frühzeitiger Schalkheit. Höchst rührend aber bleibt das heranstrebende Ge- fühl des Knaben, der, von dem hohen Gei- ste des Alters erregt, in sich selbst ein Staunen fühlt, das ihm weissagt, auch der- gleichen könne sich in ihm entwickeln. Wir versuchten so schöne Verhältnisse im Schenkenbuche anzudeuten und gegenwär- tig weiter auszulegen. Saadi hat jedoch uns einige Beyspiele erhalten, deren Zart-
denschaftliche Neigung des Kindes zum Greise ist keineswegs eine seltene, aber selten benutzte Erscheinung. Hier gewahre man den Bezug des Enkels zum Groſsva- ter, des spätgebornen Erben zum über- raschten zärtlichen Vater. In diesem Ver- hältniſs entwickelt sich eigentlich der Klugsinn der Kinder; sie sind aufmerksam auf Würde, Erfahrung, Gewalt des Aelte- ren; rein geborne Seelen empfinden dabey das Bedürfniſs einer ehrfurchtsvollen Nei- gung; das Alter wird hievon ergriffen und festgehalten. Empfindet und benutzt die Jugend ihr Uebergewicht um kindliche Zwecke zu erreichen, kindische Bedürfnisse zu befriedigen, so versöhnt uns die An- muth mit frühzeitiger Schalkheit. Höchst rührend aber bleibt das heranstrebende Ge- fühl des Knaben, der, von dem hohen Gei- ste des Alters erregt, in sich selbst ein Staunen fühlt, das ihm weissagt, auch der- gleichen könne sich in ihm entwickeln. Wir versuchten so schöne Verhältnisse im Schenkenbuche anzudeuten und gegenwär- tig weiter auszulegen. Saadi hat jedoch uns einige Beyspiele erhalten, deren Zart-
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[413[415]/0425]
denschaftliche Neigung des Kindes zum
Greise ist keineswegs eine seltene, aber
selten benutzte Erscheinung. Hier gewahre
man den Bezug des Enkels zum Groſsva-
ter, des spätgebornen Erben zum über-
raschten zärtlichen Vater. In diesem Ver-
hältniſs entwickelt sich eigentlich der
Klugsinn der Kinder; sie sind aufmerksam
auf Würde, Erfahrung, Gewalt des Aelte-
ren; rein geborne Seelen empfinden dabey
das Bedürfniſs einer ehrfurchtsvollen Nei-
gung; das Alter wird hievon ergriffen und
festgehalten. Empfindet und benutzt die
Jugend ihr Uebergewicht um kindliche
Zwecke zu erreichen, kindische Bedürfnisse
zu befriedigen, so versöhnt uns die An-
muth mit frühzeitiger Schalkheit. Höchst
rührend aber bleibt das heranstrebende Ge-
fühl des Knaben, der, von dem hohen Gei-
ste des Alters erregt, in sich selbst ein
Staunen fühlt, das ihm weissagt, auch der-
gleichen könne sich in ihm entwickeln. Wir
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 413[415]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/425>, abgerufen am 22.12.2024.
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