Manne, der durch seine Natur zum Gröss- ten getrieben ist. Aber freylich wird ein solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen kräftigen, kurz gebundenen, raschen That- mann, vierzig Jahre ohne Sinn und Noth, mit einer ungeheuren Volksmasse, auf ei- nem so kleinen Raum, im Angesicht seines grossen Zieles, herum taumeln sehen. Bloss durch die Verkürzung des Wegs und der Zeit, die er darauf zugebracht, haben wir alles Böse, was wir von ihm zu sagen ge- wagt, wieder ausgeglichen und ihn an seine rechte Stelle gehoben.
Und so bleibt uns nichts mehr übrig, als dasjenige zu wiederholen, womit wir unsere Betrachtungen begonnen haben. Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als jeder anderen Ueberlieferung, wenn wir sie mit critischem Sinne behan- deln, wenn wir aufdecken, worin sie sich widerspricht, und wie oft das Ursprüngli- che, Bessere, durch nachherige Zusätze, Einschaltungen und Accommodationen ver- deckt, ja entstellt worden. Der innerliche, eigentliche Ur- und Grundwerth geht nur desto lebhafter und reiner hervor, und die-
Manne, der durch seine Natur zum Gröſs- ten getrieben ist. Aber freylich wird ein solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen kräftigen, kurz gebundenen, raschen That- mann, vierzig Jahre ohne Sinn und Noth, mit einer ungeheuren Volksmasse, auf ei- nem so kleinen Raum, im Angesicht seines groſsen Zieles, herum taumeln sehen. Bloſs durch die Verkürzung des Wegs und der Zeit, die er darauf zugebracht, haben wir alles Böse, was wir von ihm zu sagen ge- wagt, wieder ausgeglichen und ihn an seine rechte Stelle gehoben.
Und so bleibt uns nichts mehr übrig, als dasjenige zu wiederholen, womit wir unsere Betrachtungen begonnen haben. Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als jeder anderen Ueberlieferung, wenn wir sie mit critischem Sinne behan- deln, wenn wir aufdecken, worin sie sich widerspricht, und wie oft das Ursprüngli- che, Bessere, durch nachherige Zusätze, Einschaltungen und Accommodationen ver- deckt, ja entstellt worden. Der innerliche, eigentliche Ur- und Grundwerth geht nur desto lebhafter und reiner hervor, und die-
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[458[460]/0470]
Manne, der durch seine Natur zum Gröſs-
ten getrieben ist. Aber freylich wird ein
solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen
kräftigen, kurz gebundenen, raschen That-
mann, vierzig Jahre ohne Sinn und Noth,
mit einer ungeheuren Volksmasse, auf ei-
nem so kleinen Raum, im Angesicht seines
groſsen Zieles, herum taumeln sehen. Bloſs
durch die Verkürzung des Wegs und der
Zeit, die er darauf zugebracht, haben wir
alles Böse, was wir von ihm zu sagen ge-
wagt, wieder ausgeglichen und ihn an seine
rechte Stelle gehoben.
Und so bleibt uns nichts mehr übrig,
als dasjenige zu wiederholen, womit wir
unsere Betrachtungen begonnen haben. Kein
Schade geschieht den heiligen Schriften,
so wenig als jeder anderen Ueberlieferung,
wenn wir sie mit critischem Sinne behan-
deln, wenn wir aufdecken, worin sie sich
widerspricht, und wie oft das Ursprüngli-
che, Bessere, durch nachherige Zusätze,
Einschaltungen und Accommodationen ver-
deckt, ja entstellt worden. Der innerliche,
eigentliche Ur- und Grundwerth geht nur
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 458[460]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/470>, abgerufen am 22.12.2024.
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