Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

könnte. Man denke sich ein ganz reines Roth, einen
vollkommenen, auf einer weißen Porzellanschale auf-
getrockneten Carmin. Wir haben diese Farbe, ihrer
hohen Würde wegen, manchmal Purpur genannt, ob
wir gleich wohl wissen, daß der Purpur der Alten sich
mehr nach der blauen Seite hinzog.

793.

Wer die prismatische Entstehung des Purpurs
kennt, der wird nicht paradox finden, wenn wir be-
haupten, daß diese Farbe theils actu, theils potentia
alle andern Farben enthalte.

794.

Wenn wir beym Gelben und Blauen eine stre-
bende Steigerung ins Rothe gesehen und dabey unsre
Gefühle bemerkt haben; so läßt sich denken, daß nun
in der Vereinigung der gesteigerten Pole eine eigent-
liche Beruhigung, die wir eine ideale Befriedigung
nennen möchten, statt finden könne. Und so entsteht,
bey physischen Phänomenen, diese höchste aller Far-
benerscheinungen aus dem Zusammentreten zweyer entge-
gengesetzten Enden, die sich zu einer Vereinigung nach
und nach selbst vorbereitet haben.

795.

Als Pigment hingegen erscheint sie uns als ein
Fertiges und als das vollkommenste Roth in der Co-
chenille; welches Material jedoch durch chemische Be-
handlung bald ins Plus, bald ins Minus zu führen
ist, und allenfalls im besten Carmin als völlig im
Gleichgewicht stehend angesehen werden kann.

koͤnnte. Man denke ſich ein ganz reines Roth, einen
vollkommenen, auf einer weißen Porzellanſchale auf-
getrockneten Carmin. Wir haben dieſe Farbe, ihrer
hohen Wuͤrde wegen, manchmal Purpur genannt, ob
wir gleich wohl wiſſen, daß der Purpur der Alten ſich
mehr nach der blauen Seite hinzog.

793.

Wer die prismatiſche Entſtehung des Purpurs
kennt, der wird nicht paradox finden, wenn wir be-
haupten, daß dieſe Farbe theils actu, theils potentia
alle andern Farben enthalte.

794.

Wenn wir beym Gelben und Blauen eine ſtre-
bende Steigerung ins Rothe geſehen und dabey unſre
Gefuͤhle bemerkt haben; ſo laͤßt ſich denken, daß nun
in der Vereinigung der geſteigerten Pole eine eigent-
liche Beruhigung, die wir eine ideale Befriedigung
nennen moͤchten, ſtatt finden koͤnne. Und ſo entſteht,
bey phyſiſchen Phaͤnomenen, dieſe hoͤchſte aller Far-
benerſcheinungen aus dem Zuſammentreten zweyer entge-
gengeſetzten Enden, die ſich zu einer Vereinigung nach
und nach ſelbſt vorbereitet haben.

795.

Als Pigment hingegen erſcheint ſie uns als ein
Fertiges und als das vollkommenſte Roth in der Co-
chenille; welches Material jedoch durch chemiſche Be-
handlung bald ins Plus, bald ins Minus zu fuͤhren
iſt, und allenfalls im beſten Carmin als voͤllig im
Gleichgewicht ſtehend angeſehen werden kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0352" n="298"/>
ko&#x0364;nnte. Man denke &#x017F;ich ein ganz reines Roth, einen<lb/>
vollkommenen, auf einer weißen Porzellan&#x017F;chale auf-<lb/>
getrockneten Carmin. Wir haben die&#x017F;e Farbe, ihrer<lb/>
hohen Wu&#x0364;rde wegen, manchmal Purpur genannt, ob<lb/>
wir gleich wohl wi&#x017F;&#x017F;en, daß der Purpur der Alten &#x017F;ich<lb/>
mehr nach der blauen Seite hinzog.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>793.</head><lb/>
              <p>Wer die prismati&#x017F;che Ent&#x017F;tehung des Purpurs<lb/>
kennt, der wird nicht paradox finden, wenn wir be-<lb/>
haupten, daß die&#x017F;e Farbe theils <hi rendition="#aq">actu,</hi> theils <hi rendition="#aq">potentia</hi><lb/>
alle andern Farben enthalte.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>794.</head><lb/>
              <p>Wenn wir beym Gelben und Blauen eine &#x017F;tre-<lb/>
bende Steigerung ins Rothe ge&#x017F;ehen und dabey un&#x017F;re<lb/>
Gefu&#x0364;hle bemerkt haben; &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich denken, daß nun<lb/>
in der Vereinigung der ge&#x017F;teigerten Pole eine eigent-<lb/>
liche Beruhigung, die wir eine ideale Befriedigung<lb/>
nennen mo&#x0364;chten, &#x017F;tatt finden ko&#x0364;nne. Und &#x017F;o ent&#x017F;teht,<lb/>
bey phy&#x017F;i&#x017F;chen Pha&#x0364;nomenen, die&#x017F;e ho&#x0364;ch&#x017F;te aller Far-<lb/>
bener&#x017F;cheinungen aus dem Zu&#x017F;ammentreten zweyer entge-<lb/>
genge&#x017F;etzten Enden, die &#x017F;ich zu einer Vereinigung nach<lb/>
und nach &#x017F;elb&#x017F;t vorbereitet haben.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>795.</head><lb/>
              <p>Als Pigment hingegen er&#x017F;cheint &#x017F;ie uns als ein<lb/>
Fertiges und als das vollkommen&#x017F;te Roth in der Co-<lb/>
chenille; welches Material jedoch durch chemi&#x017F;che Be-<lb/>
handlung bald ins Plus, bald ins Minus zu fu&#x0364;hren<lb/>
i&#x017F;t, und allenfalls im be&#x017F;ten Carmin als vo&#x0364;llig im<lb/>
Gleichgewicht &#x017F;tehend ange&#x017F;ehen werden kann.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0352] koͤnnte. Man denke ſich ein ganz reines Roth, einen vollkommenen, auf einer weißen Porzellanſchale auf- getrockneten Carmin. Wir haben dieſe Farbe, ihrer hohen Wuͤrde wegen, manchmal Purpur genannt, ob wir gleich wohl wiſſen, daß der Purpur der Alten ſich mehr nach der blauen Seite hinzog. 793. Wer die prismatiſche Entſtehung des Purpurs kennt, der wird nicht paradox finden, wenn wir be- haupten, daß dieſe Farbe theils actu, theils potentia alle andern Farben enthalte. 794. Wenn wir beym Gelben und Blauen eine ſtre- bende Steigerung ins Rothe geſehen und dabey unſre Gefuͤhle bemerkt haben; ſo laͤßt ſich denken, daß nun in der Vereinigung der geſteigerten Pole eine eigent- liche Beruhigung, die wir eine ideale Befriedigung nennen moͤchten, ſtatt finden koͤnne. Und ſo entſteht, bey phyſiſchen Phaͤnomenen, dieſe hoͤchſte aller Far- benerſcheinungen aus dem Zuſammentreten zweyer entge- gengeſetzten Enden, die ſich zu einer Vereinigung nach und nach ſelbſt vorbereitet haben. 795. Als Pigment hingegen erſcheint ſie uns als ein Fertiges und als das vollkommenſte Roth in der Co- chenille; welches Material jedoch durch chemiſche Be- handlung bald ins Plus, bald ins Minus zu fuͤhren iſt, und allenfalls im beſten Carmin als voͤllig im Gleichgewicht ſtehend angeſehen werden kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/352
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/352>, abgerufen am 23.12.2024.