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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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gründen zu üben, wird es unmöglich, ohne zu
Grunde zu gehen, aus seiner Individualität heraus
sich in ein allgemeines Bestreben zu versetzen.

Derjenige, der, indem er sich in der unendlichen
Fülle von Leben, die um ihn ausgebreitet ist, ver-
liert, und unwiderstehlich dadurch zum Nachbilden an-
gereizt wird, sich von dem totalen Eindrucke eben so
gewaltig ergriffen fühlt, wird gewiß auf eben die
Weise, wie er in das Charakteristische der Einzelnhei-
ten eingeht, auch in das Verhältniß, die Natur und
die Kräfte der großen Massen einzudringen suchen.

Wer in dem beständigen Gefühl, wie alles bis
ins kleinste Detail lebendig ist, und auf einander
wirkt, die großen Massen betrachtet, kann solche nicht
ohne eine besondere Connexion oder Verwandtschaft
sich denken, noch viel weniger darstellen, ohne sich
auf die Grundursachen einzulassen. Und thut er dieß,
so kann er nicht eher wieder zu der ersten Freyheit ge-
langen, wenn er sich nicht gewissermaßen bis auf den
reinen Grund durchgearbeitet hat.

Um es deutlicher zu machen, wie ich es meyne:
ich glaube, daß die alten deutschen Künstler, wenn
sie etwas von der Form gewußt hätten, die Unmit-
telbarkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks in ihren
Figuren würden verloren haben, bis sie in dieser Wis-
senschaft einen gewissen Grad erlangt hätten.

Es hat manchen Menschen gegeben, der aus freyer
Faust Brücken und Hängewerke und gar künstliche Sa-
chen gebaut hat. Es geht auch wohl eine Zeit lang,
wann er aber zu einer gewissen Höhe gekommen und

gruͤnden zu uͤben, wird es unmoͤglich, ohne zu
Grunde zu gehen, aus ſeiner Individualitaͤt heraus
ſich in ein allgemeines Beſtreben zu verſetzen.

Derjenige, der, indem er ſich in der unendlichen
Fuͤlle von Leben, die um ihn ausgebreitet iſt, ver-
liert, und unwiderſtehlich dadurch zum Nachbilden an-
gereizt wird, ſich von dem totalen Eindrucke eben ſo
gewaltig ergriffen fuͤhlt, wird gewiß auf eben die
Weiſe, wie er in das Charakteriſtiſche der Einzelnhei-
ten eingeht, auch in das Verhaͤltniß, die Natur und
die Kraͤfte der großen Maſſen einzudringen ſuchen.

Wer in dem beſtaͤndigen Gefuͤhl, wie alles bis
ins kleinſte Detail lebendig iſt, und auf einander
wirkt, die großen Maſſen betrachtet, kann ſolche nicht
ohne eine beſondere Connexion oder Verwandtſchaft
ſich denken, noch viel weniger darſtellen, ohne ſich
auf die Grundurſachen einzulaſſen. Und thut er dieß,
ſo kann er nicht eher wieder zu der erſten Freyheit ge-
langen, wenn er ſich nicht gewiſſermaßen bis auf den
reinen Grund durchgearbeitet hat.

Um es deutlicher zu machen, wie ich es meyne:
ich glaube, daß die alten deutſchen Kuͤnſtler, wenn
ſie etwas von der Form gewußt haͤtten, die Unmit-
telbarkeit und Natuͤrlichkeit des Ausdrucks in ihren
Figuren wuͤrden verloren haben, bis ſie in dieſer Wiſ-
ſenſchaft einen gewiſſen Grad erlangt haͤtten.

Es hat manchen Menſchen gegeben, der aus freyer
Fauſt Bruͤcken und Haͤngewerke und gar kuͤnſtliche Sa-
chen gebaut hat. Es geht auch wohl eine Zeit lang,
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[341/0395] gruͤnden zu uͤben, wird es unmoͤglich, ohne zu Grunde zu gehen, aus ſeiner Individualitaͤt heraus ſich in ein allgemeines Beſtreben zu verſetzen. Derjenige, der, indem er ſich in der unendlichen Fuͤlle von Leben, die um ihn ausgebreitet iſt, ver- liert, und unwiderſtehlich dadurch zum Nachbilden an- gereizt wird, ſich von dem totalen Eindrucke eben ſo gewaltig ergriffen fuͤhlt, wird gewiß auf eben die Weiſe, wie er in das Charakteriſtiſche der Einzelnhei- ten eingeht, auch in das Verhaͤltniß, die Natur und die Kraͤfte der großen Maſſen einzudringen ſuchen. Wer in dem beſtaͤndigen Gefuͤhl, wie alles bis ins kleinſte Detail lebendig iſt, und auf einander wirkt, die großen Maſſen betrachtet, kann ſolche nicht ohne eine beſondere Connexion oder Verwandtſchaft ſich denken, noch viel weniger darſtellen, ohne ſich auf die Grundurſachen einzulaſſen. Und thut er dieß, ſo kann er nicht eher wieder zu der erſten Freyheit ge- langen, wenn er ſich nicht gewiſſermaßen bis auf den reinen Grund durchgearbeitet hat. Um es deutlicher zu machen, wie ich es meyne: ich glaube, daß die alten deutſchen Kuͤnſtler, wenn ſie etwas von der Form gewußt haͤtten, die Unmit- telbarkeit und Natuͤrlichkeit des Ausdrucks in ihren Figuren wuͤrden verloren haben, bis ſie in dieſer Wiſ- ſenſchaft einen gewiſſen Grad erlangt haͤtten. Es hat manchen Menſchen gegeben, der aus freyer Fauſt Bruͤcken und Haͤngewerke und gar kuͤnſtliche Sa- chen gebaut hat. Es geht auch wohl eine Zeit lang, wann er aber zu einer gewiſſen Hoͤhe gekommen und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/395>, abgerufen am 23.12.2024.