Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und
was er deßwegen zugeben mag. Im Wissen wie im Han-
deln entscheidet das Vorurtheil alles, und das Vorurtheil
wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urtheil vor der
Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung
dessen, was unsre Natur anspricht oder ihr widerspricht;
es ist ein freudiger Trieb unsres lebendigen Wesens nach
dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem was
wir mit uns im Einklang fühlen.

31.

Wir bilden uns also keinesweges ein, zu beweisen,
daß Newton unrecht habe; denn jeder Atomistisch- ge-
sinnte, jeder am Hergebrachten Festhaltende, jeder vor
einem großen alten Namen mit heiliger Scheu Zurück-
tretende, jeder Bequeme wird viel lieber die erste Pro-
position Newtons wiederholen, darauf schwören, ver-
sichern, daß alles erwiesen und bewiesen sey und unsere
Bemühungen verwünschen.

Ja wir gestehen es gerne, daß wir seit mehreren
Jahren oft mit Widerwillen dieses Geschäft aufs neue
vorgenommen haben. Denn man könnte sich's wirklich
zur Sünde rechnen, die selige Ueberzeugung der New-
tonischen Schule, ja überhaupt die himmlische Ruhe der
ganzen halb unterrichteten Welt in und an dem Credit
dieser Schule zu stören und in Unbehaglichkeit zu setzen.
Denn wenn die sämmtlichen Meister die alte starre Con-
fession immer auf ihren Lehrstühlen wiederholen, so im-
primiren sich die Schüler jene kurzen Formeln sehr ger-

Niemand etwas begreift, als was ihm gemaͤß iſt und
was er deßwegen zugeben mag. Im Wiſſen wie im Han-
deln entſcheidet das Vorurtheil alles, und das Vorurtheil
wie ſein Name wohl bezeichnet, iſt ein Urtheil vor der
Unterſuchung. Es iſt eine Bejahung oder Verneinung
deſſen, was unſre Natur anſpricht oder ihr widerſpricht;
es iſt ein freudiger Trieb unſres lebendigen Weſens nach
dem Wahren wie nach dem Falſchen, nach allem was
wir mit uns im Einklang fuͤhlen.

31.

Wir bilden uns alſo keinesweges ein, zu beweiſen,
daß Newton unrecht habe; denn jeder Atomiſtiſch- ge-
ſinnte, jeder am Hergebrachten Feſthaltende, jeder vor
einem großen alten Namen mit heiliger Scheu Zuruͤck-
tretende, jeder Bequeme wird viel lieber die erſte Pro-
poſition Newtons wiederholen, darauf ſchwoͤren, ver-
ſichern, daß alles erwieſen und bewieſen ſey und unſere
Bemuͤhungen verwuͤnſchen.

Ja wir geſtehen es gerne, daß wir ſeit mehreren
Jahren oft mit Widerwillen dieſes Geſchaͤft aufs neue
vorgenommen haben. Denn man koͤnnte ſich’s wirklich
zur Suͤnde rechnen, die ſelige Ueberzeugung der New-
toniſchen Schule, ja uͤberhaupt die himmliſche Ruhe der
ganzen halb unterrichteten Welt in und an dem Credit
dieſer Schule zu ſtoͤren und in Unbehaglichkeit zu ſetzen.
Denn wenn die ſaͤmmtlichen Meiſter die alte ſtarre Con-
feſſion immer auf ihren Lehrſtuͤhlen wiederholen, ſo im-
primiren ſich die Schuͤler jene kurzen Formeln ſehr ger-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0428" n="374"/>
Niemand etwas begreift, als was ihm gema&#x0364;ß i&#x017F;t und<lb/>
was er deßwegen zugeben mag. Im Wi&#x017F;&#x017F;en wie im Han-<lb/>
deln ent&#x017F;cheidet das Vorurtheil alles, und das Vorurtheil<lb/>
wie &#x017F;ein Name wohl bezeichnet, i&#x017F;t ein Urtheil vor der<lb/>
Unter&#x017F;uchung. Es i&#x017F;t eine Bejahung oder Verneinung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en, was un&#x017F;re Natur an&#x017F;pricht oder ihr wider&#x017F;pricht;<lb/>
es i&#x017F;t ein freudiger Trieb un&#x017F;res lebendigen We&#x017F;ens nach<lb/>
dem Wahren wie nach dem Fal&#x017F;chen, nach allem was<lb/>
wir mit uns im Einklang fu&#x0364;hlen.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>31.</head><lb/>
                <p>Wir bilden uns al&#x017F;o keinesweges ein, zu bewei&#x017F;en,<lb/>
daß Newton unrecht habe; denn jeder Atomi&#x017F;ti&#x017F;ch- ge-<lb/>
&#x017F;innte, jeder am Hergebrachten Fe&#x017F;thaltende, jeder vor<lb/>
einem großen alten Namen mit heiliger Scheu Zuru&#x0364;ck-<lb/>
tretende, jeder Bequeme wird viel lieber die er&#x017F;te Pro-<lb/>
po&#x017F;ition Newtons wiederholen, darauf &#x017F;chwo&#x0364;ren, ver-<lb/>
&#x017F;ichern, daß alles erwie&#x017F;en und bewie&#x017F;en &#x017F;ey und un&#x017F;ere<lb/>
Bemu&#x0364;hungen verwu&#x0364;n&#x017F;chen.</p><lb/>
                <p>Ja wir ge&#x017F;tehen es gerne, daß wir &#x017F;eit mehreren<lb/>
Jahren oft mit Widerwillen die&#x017F;es Ge&#x017F;cha&#x0364;ft aufs neue<lb/>
vorgenommen haben. Denn man ko&#x0364;nnte &#x017F;ich&#x2019;s wirklich<lb/>
zur Su&#x0364;nde rechnen, die &#x017F;elige Ueberzeugung der New-<lb/>
toni&#x017F;chen Schule, ja u&#x0364;berhaupt die himmli&#x017F;che Ruhe der<lb/>
ganzen halb unterrichteten Welt in und an dem Credit<lb/>
die&#x017F;er Schule zu &#x017F;to&#x0364;ren und in Unbehaglichkeit zu &#x017F;etzen.<lb/>
Denn wenn die &#x017F;a&#x0364;mmtlichen Mei&#x017F;ter die alte &#x017F;tarre Con-<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;ion immer auf ihren Lehr&#x017F;tu&#x0364;hlen wiederholen, &#x017F;o im-<lb/>
primiren &#x017F;ich die Schu&#x0364;ler jene kurzen Formeln &#x017F;ehr ger-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0428] Niemand etwas begreift, als was ihm gemaͤß iſt und was er deßwegen zugeben mag. Im Wiſſen wie im Han- deln entſcheidet das Vorurtheil alles, und das Vorurtheil wie ſein Name wohl bezeichnet, iſt ein Urtheil vor der Unterſuchung. Es iſt eine Bejahung oder Verneinung deſſen, was unſre Natur anſpricht oder ihr widerſpricht; es iſt ein freudiger Trieb unſres lebendigen Weſens nach dem Wahren wie nach dem Falſchen, nach allem was wir mit uns im Einklang fuͤhlen. 31. Wir bilden uns alſo keinesweges ein, zu beweiſen, daß Newton unrecht habe; denn jeder Atomiſtiſch- ge- ſinnte, jeder am Hergebrachten Feſthaltende, jeder vor einem großen alten Namen mit heiliger Scheu Zuruͤck- tretende, jeder Bequeme wird viel lieber die erſte Pro- poſition Newtons wiederholen, darauf ſchwoͤren, ver- ſichern, daß alles erwieſen und bewieſen ſey und unſere Bemuͤhungen verwuͤnſchen. Ja wir geſtehen es gerne, daß wir ſeit mehreren Jahren oft mit Widerwillen dieſes Geſchaͤft aufs neue vorgenommen haben. Denn man koͤnnte ſich’s wirklich zur Suͤnde rechnen, die ſelige Ueberzeugung der New- toniſchen Schule, ja uͤberhaupt die himmliſche Ruhe der ganzen halb unterrichteten Welt in und an dem Credit dieſer Schule zu ſtoͤren und in Unbehaglichkeit zu ſetzen. Denn wenn die ſaͤmmtlichen Meiſter die alte ſtarre Con- feſſion immer auf ihren Lehrſtuͤhlen wiederholen, ſo im- primiren ſich die Schuͤler jene kurzen Formeln ſehr ger-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/428
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/428>, abgerufen am 23.12.2024.