Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Usta, dem gebrannten Bleyweiße spricht, hinzufügt:
daß ohne diese Farbe der Schatten nicht ausgedrückt
werden könne; welches genau mit den Grundsätzen
der neuern Maler, die mit kräftigem Colorit gearbei-
tet, übereinstimmt.

Zu welcher Zeit und von welchem Künstler das
System der Massen von Licht und Schatten in der
Malerey gegründet worden, ist nicht genau bekannt;
aber wenn wir dasselbe an den plastischen Werken, zur
Zeit des schönen Styls, um die Zeit des Praxiteles,
angewandt sehen, so ist mit Grund zu vermuthen,
daß in der Malerey schon etwas früher davon Ge-
brauch gemacht worden, und diese Maximen nachher
auf die Plastik übergegangen.

Durch den Apelles erreichte endlich die Malerey
bey den Griechen ihr höchstes Ziel. Was den Adel
der Erfindung, die Schönheit der Gestalten betrifft,
scheint er allen seinen Kunstgenossen wenigstens gleich-
gekommen zu seyn; in Betreff der Anmuth aber über
alle den Vorzug behauptet zu haben.

Aus der Menge Arbeiten dieses Künstlers, von
denen uns noch Nachricht übrig geblieben, läßt sich
schließen, daß die Behandlung derselben vollkommen
meisterhaft und leicht gewesen, ohne jedoch der Zart-
heit der Ausführung einigen Abbruch zu thun. Und so
dürfen wir auch, theils aus diesem, theils aus andern
Gründen, welche die erwähnten Nachrichten uns dar-

Uſta, dem gebrannten Bleyweiße ſpricht, hinzufuͤgt:
daß ohne dieſe Farbe der Schatten nicht ausgedruͤckt
werden koͤnne; welches genau mit den Grundſaͤtzen
der neuern Maler, die mit kraͤftigem Colorit gearbei-
tet, uͤbereinſtimmt.

Zu welcher Zeit und von welchem Kuͤnſtler das
Syſtem der Maſſen von Licht und Schatten in der
Malerey gegruͤndet worden, iſt nicht genau bekannt;
aber wenn wir daſſelbe an den plaſtiſchen Werken, zur
Zeit des ſchoͤnen Styls, um die Zeit des Praxiteles,
angewandt ſehen, ſo iſt mit Grund zu vermuthen,
daß in der Malerey ſchon etwas fruͤher davon Ge-
brauch gemacht worden, und dieſe Maximen nachher
auf die Plaſtik uͤbergegangen.

Durch den Apelles erreichte endlich die Malerey
bey den Griechen ihr hoͤchſtes Ziel. Was den Adel
der Erfindung, die Schoͤnheit der Geſtalten betrifft,
ſcheint er allen ſeinen Kunſtgenoſſen wenigſtens gleich-
gekommen zu ſeyn; in Betreff der Anmuth aber uͤber
alle den Vorzug behauptet zu haben.

Aus der Menge Arbeiten dieſes Kuͤnſtlers, von
denen uns noch Nachricht uͤbrig geblieben, laͤßt ſich
ſchließen, daß die Behandlung derſelben vollkommen
meiſterhaft und leicht geweſen, ohne jedoch der Zart-
heit der Ausfuͤhrung einigen Abbruch zu thun. Und ſo
duͤrfen wir auch, theils aus dieſem, theils aus andern
Gruͤnden, welche die erwaͤhnten Nachrichten uns dar-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0120" n="86"/><hi rendition="#aq">U&#x017F;ta</hi>, dem gebrannten Bleyweiße &#x017F;pricht, hinzufu&#x0364;gt:<lb/>
daß ohne die&#x017F;e Farbe der Schatten nicht ausgedru&#x0364;ckt<lb/>
werden ko&#x0364;nne; welches genau mit den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen<lb/>
der neuern Maler, die mit kra&#x0364;ftigem Colorit gearbei-<lb/>
tet, u&#x0364;berein&#x017F;timmt.</p><lb/>
          <p>Zu welcher Zeit und von welchem Ku&#x0364;n&#x017F;tler das<lb/>
Sy&#x017F;tem der Ma&#x017F;&#x017F;en von Licht und Schatten in der<lb/>
Malerey gegru&#x0364;ndet worden, i&#x017F;t nicht genau bekannt;<lb/>
aber wenn wir da&#x017F;&#x017F;elbe an den pla&#x017F;ti&#x017F;chen Werken, zur<lb/>
Zeit des &#x017F;cho&#x0364;nen Styls, um die Zeit des Praxiteles,<lb/>
angewandt &#x017F;ehen, &#x017F;o i&#x017F;t mit Grund zu vermuthen,<lb/>
daß in der Malerey &#x017F;chon etwas fru&#x0364;her davon Ge-<lb/>
brauch gemacht worden, und die&#x017F;e Maximen nachher<lb/>
auf die Pla&#x017F;tik u&#x0364;bergegangen.</p><lb/>
          <p>Durch den Apelles erreichte endlich die Malerey<lb/>
bey den Griechen ihr ho&#x0364;ch&#x017F;tes Ziel. Was den Adel<lb/>
der Erfindung, die Scho&#x0364;nheit der Ge&#x017F;talten betrifft,<lb/>
&#x017F;cheint er allen &#x017F;einen Kun&#x017F;tgeno&#x017F;&#x017F;en wenig&#x017F;tens gleich-<lb/>
gekommen zu &#x017F;eyn; in Betreff der Anmuth aber u&#x0364;ber<lb/>
alle den Vorzug behauptet zu haben.</p><lb/>
          <p>Aus der Menge Arbeiten die&#x017F;es Ku&#x0364;n&#x017F;tlers, von<lb/>
denen uns noch Nachricht u&#x0364;brig geblieben, la&#x0364;ßt &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chließen, daß die Behandlung der&#x017F;elben vollkommen<lb/>
mei&#x017F;terhaft und leicht gewe&#x017F;en, ohne jedoch der Zart-<lb/>
heit der Ausfu&#x0364;hrung einigen Abbruch zu thun. Und &#x017F;o<lb/>
du&#x0364;rfen wir auch, theils aus die&#x017F;em, theils aus andern<lb/>
Gru&#x0364;nden, welche die erwa&#x0364;hnten Nachrichten uns dar-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0120] Uſta, dem gebrannten Bleyweiße ſpricht, hinzufuͤgt: daß ohne dieſe Farbe der Schatten nicht ausgedruͤckt werden koͤnne; welches genau mit den Grundſaͤtzen der neuern Maler, die mit kraͤftigem Colorit gearbei- tet, uͤbereinſtimmt. Zu welcher Zeit und von welchem Kuͤnſtler das Syſtem der Maſſen von Licht und Schatten in der Malerey gegruͤndet worden, iſt nicht genau bekannt; aber wenn wir daſſelbe an den plaſtiſchen Werken, zur Zeit des ſchoͤnen Styls, um die Zeit des Praxiteles, angewandt ſehen, ſo iſt mit Grund zu vermuthen, daß in der Malerey ſchon etwas fruͤher davon Ge- brauch gemacht worden, und dieſe Maximen nachher auf die Plaſtik uͤbergegangen. Durch den Apelles erreichte endlich die Malerey bey den Griechen ihr hoͤchſtes Ziel. Was den Adel der Erfindung, die Schoͤnheit der Geſtalten betrifft, ſcheint er allen ſeinen Kunſtgenoſſen wenigſtens gleich- gekommen zu ſeyn; in Betreff der Anmuth aber uͤber alle den Vorzug behauptet zu haben. Aus der Menge Arbeiten dieſes Kuͤnſtlers, von denen uns noch Nachricht uͤbrig geblieben, laͤßt ſich ſchließen, daß die Behandlung derſelben vollkommen meiſterhaft und leicht geweſen, ohne jedoch der Zart- heit der Ausfuͤhrung einigen Abbruch zu thun. Und ſo duͤrfen wir auch, theils aus dieſem, theils aus andern Gruͤnden, welche die erwaͤhnten Nachrichten uns dar-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/120
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/120>, abgerufen am 18.12.2024.