fremde zu geben; vermeidet er zu urtheilen, so weiß der Leser nicht, woran er ist; richtet er nach gewissen Maximen, so werden seine Darstellungen einseitig und erregen Widerspruch, und die Ge- schichte macht selbst wieder Geschichten.
Ferner sind die Gesinnungen und Meynungen eines bedeutenden Verfassers nicht so leicht auszu- sprechen. Alle Lehren, denen man Originalität zu- schreiben kann, sind nicht so leicht gefaßt, nicht so geschwind epitomirt und systematisirt. Der Schrift- steller neigt sich zu dieser oder jener Gesinnung; sie wird aber durch seine Individualität, ja oft nur durch den Vortrag, durch die Eigenthümlichkeit des Idioms, in welchem er spricht und schreibt, durch die Wendung der Zeit, durch mancherley Rücksichten modificirt. Wie wunderbar verhält sich nicht Gassendi zu Epicur!
Ein Mann, der länger gelebt, ist verschiedene Epochen durchgegangen; er stimmt vielleicht nicht immer mit sich selbst überein; er trägt manches vor, davon wir das eine für wahr, das andre für falsch ansprechen möchten: alles dieses darzustellen, zu sondern, zu bejahen, zu verneinen, ist eine unend- liche Arbeit, die nur dem gelingen kann, der sich ihr ganz widmet und ihr sein Leben aufopfern mag.
fremde zu geben; vermeidet er zu urtheilen, ſo weiß der Leſer nicht, woran er iſt; richtet er nach gewiſſen Maximen, ſo werden ſeine Darſtellungen einſeitig und erregen Widerſpruch, und die Ge- ſchichte macht ſelbſt wieder Geſchichten.
Ferner ſind die Geſinnungen und Meynungen eines bedeutenden Verfaſſers nicht ſo leicht auszu- ſprechen. Alle Lehren, denen man Originalitaͤt zu- ſchreiben kann, ſind nicht ſo leicht gefaßt, nicht ſo geſchwind epitomirt und ſyſtematiſirt. Der Schrift- ſteller neigt ſich zu dieſer oder jener Geſinnung; ſie wird aber durch ſeine Individualitaͤt, ja oft nur durch den Vortrag, durch die Eigenthuͤmlichkeit des Idioms, in welchem er ſpricht und ſchreibt, durch die Wendung der Zeit, durch mancherley Ruͤckſichten modificirt. Wie wunderbar verhaͤlt ſich nicht Gaſſendi zu Epicur!
Ein Mann, der laͤnger gelebt, iſt verſchiedene Epochen durchgegangen; er ſtimmt vielleicht nicht immer mit ſich ſelbſt uͤberein; er traͤgt manches vor, davon wir das eine fuͤr wahr, das andre fuͤr falſch anſprechen moͤchten: alles dieſes darzuſtellen, zu ſondern, zu bejahen, zu verneinen, iſt eine unend- liche Arbeit, die nur dem gelingen kann, der ſich ihr ganz widmet und ihr ſein Leben aufopfern mag.
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[VIII/0014]
fremde zu geben; vermeidet er zu urtheilen, ſo
weiß der Leſer nicht, woran er iſt; richtet er nach
gewiſſen Maximen, ſo werden ſeine Darſtellungen
einſeitig und erregen Widerſpruch, und die Ge-
ſchichte macht ſelbſt wieder Geſchichten.
Ferner ſind die Geſinnungen und Meynungen
eines bedeutenden Verfaſſers nicht ſo leicht auszu-
ſprechen. Alle Lehren, denen man Originalitaͤt zu-
ſchreiben kann, ſind nicht ſo leicht gefaßt, nicht ſo
geſchwind epitomirt und ſyſtematiſirt. Der Schrift-
ſteller neigt ſich zu dieſer oder jener Geſinnung; ſie
wird aber durch ſeine Individualitaͤt, ja oft nur
durch den Vortrag, durch die Eigenthuͤmlichkeit
des Idioms, in welchem er ſpricht und ſchreibt,
durch die Wendung der Zeit, durch mancherley
Ruͤckſichten modificirt. Wie wunderbar verhaͤlt ſich
nicht Gaſſendi zu Epicur!
Ein Mann, der laͤnger gelebt, iſt verſchiedene
Epochen durchgegangen; er ſtimmt vielleicht nicht
immer mit ſich ſelbſt uͤberein; er traͤgt manches vor,
davon wir das eine fuͤr wahr, das andre fuͤr falſch
anſprechen moͤchten: alles dieſes darzuſtellen, zu
ſondern, zu bejahen, zu verneinen, iſt eine unend-
liche Arbeit, die nur dem gelingen kann, der ſich
ihr ganz widmet und ihr ſein Leben aufopfern mag.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/14>, abgerufen am 03.12.2024.
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