Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

mer das Individuum, das einer breiteren Natur und
breiteren Ueberlieferung Brust und Stirn bieten soll.


Der Conflict des Individuums mit der unmittel-
baren Erfahrung und der mittelbaren Ueberlieferung,
ist eigentlich die Geschichte der Wissenschaften: denn
was in und von ganzen Massen geschieht, bezieht sich
doch nur zuletzt auf ein tüchtigeres Individuum, das
alles sammeln, sondern, redigiren und vereinigen soll;
wobey es wirklich ganz einerley ist, ob die Zeitgenos-
sen ein solch Bemühen begünstigen oder ihm widerstre-
ben. Denn was heißt begünstigen, als das Vor-
handene vermehren und allgemein machen. Dadurch
wird wohl genutzt, aber die Hauptsache nicht ge-
fördert.


Sowohl in Absicht auf Ueberlieferung als eigene
Erfahrung muß nach Natur der Individuen, Nati-
onen und Zeiten ein sonderbares Entgegenstreben,
Schwanken und Vermischen entstehen.


Gehalt ohne Methode führt zur Schwärmerey;
Methode ohne Gehalt zum leeren Klügeln; Stoff ohne
Form zum beschwerlichen Wissen, Form ohne Stoff zu
einem hohlen Wähnen.


mer das Individuum, das einer breiteren Natur und
breiteren Ueberlieferung Bruſt und Stirn bieten ſoll.


Der Conflict des Individuums mit der unmittel-
baren Erfahrung und der mittelbaren Ueberlieferung,
iſt eigentlich die Geſchichte der Wiſſenſchaften: denn
was in und von ganzen Maſſen geſchieht, bezieht ſich
doch nur zuletzt auf ein tuͤchtigeres Individuum, das
alles ſammeln, ſondern, redigiren und vereinigen ſoll;
wobey es wirklich ganz einerley iſt, ob die Zeitgenoſ-
ſen ein ſolch Bemuͤhen beguͤnſtigen oder ihm widerſtre-
ben. Denn was heißt beguͤnſtigen, als das Vor-
handene vermehren und allgemein machen. Dadurch
wird wohl genutzt, aber die Hauptſache nicht ge-
foͤrdert.


Sowohl in Abſicht auf Ueberlieferung als eigene
Erfahrung muß nach Natur der Individuen, Nati-
onen und Zeiten ein ſonderbares Entgegenſtreben,
Schwanken und Vermiſchen entſtehen.


Gehalt ohne Methode fuͤhrt zur Schwaͤrmerey;
Methode ohne Gehalt zum leeren Kluͤgeln; Stoff ohne
Form zum beſchwerlichen Wiſſen, Form ohne Stoff zu
einem hohlen Waͤhnen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="136"/>
mer das Individuum, das einer breiteren Natur und<lb/>
breiteren Ueberlieferung Bru&#x017F;t und Stirn bieten &#x017F;oll.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Der Conflict des Individuums mit der unmittel-<lb/>
baren Erfahrung und der mittelbaren Ueberlieferung,<lb/>
i&#x017F;t eigentlich die Ge&#x017F;chichte der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften: denn<lb/>
was in und von ganzen Ma&#x017F;&#x017F;en ge&#x017F;chieht, bezieht &#x017F;ich<lb/>
doch nur zuletzt auf ein tu&#x0364;chtigeres Individuum, das<lb/>
alles &#x017F;ammeln, &#x017F;ondern, redigiren und vereinigen &#x017F;oll;<lb/>
wobey es wirklich ganz einerley i&#x017F;t, ob die Zeitgeno&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en ein &#x017F;olch Bemu&#x0364;hen begu&#x0364;n&#x017F;tigen oder ihm wider&#x017F;tre-<lb/>
ben. Denn was heißt begu&#x0364;n&#x017F;tigen, als das Vor-<lb/>
handene vermehren und allgemein machen. Dadurch<lb/>
wird wohl genutzt, aber die Haupt&#x017F;ache nicht ge-<lb/>
fo&#x0364;rdert.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Sowohl in Ab&#x017F;icht auf Ueberlieferung als eigene<lb/>
Erfahrung muß nach Natur der Individuen, Nati-<lb/>
onen und Zeiten ein &#x017F;onderbares Entgegen&#x017F;treben,<lb/>
Schwanken und Vermi&#x017F;chen ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Gehalt ohne Methode fu&#x0364;hrt zur Schwa&#x0364;rmerey;<lb/>
Methode ohne Gehalt zum leeren Klu&#x0364;geln; Stoff ohne<lb/>
Form zum be&#x017F;chwerlichen Wi&#x017F;&#x017F;en, Form ohne Stoff zu<lb/>
einem hohlen Wa&#x0364;hnen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0170] mer das Individuum, das einer breiteren Natur und breiteren Ueberlieferung Bruſt und Stirn bieten ſoll. Der Conflict des Individuums mit der unmittel- baren Erfahrung und der mittelbaren Ueberlieferung, iſt eigentlich die Geſchichte der Wiſſenſchaften: denn was in und von ganzen Maſſen geſchieht, bezieht ſich doch nur zuletzt auf ein tuͤchtigeres Individuum, das alles ſammeln, ſondern, redigiren und vereinigen ſoll; wobey es wirklich ganz einerley iſt, ob die Zeitgenoſ- ſen ein ſolch Bemuͤhen beguͤnſtigen oder ihm widerſtre- ben. Denn was heißt beguͤnſtigen, als das Vor- handene vermehren und allgemein machen. Dadurch wird wohl genutzt, aber die Hauptſache nicht ge- foͤrdert. Sowohl in Abſicht auf Ueberlieferung als eigene Erfahrung muß nach Natur der Individuen, Nati- onen und Zeiten ein ſonderbares Entgegenſtreben, Schwanken und Vermiſchen entſtehen. Gehalt ohne Methode fuͤhrt zur Schwaͤrmerey; Methode ohne Gehalt zum leeren Kluͤgeln; Stoff ohne Form zum beſchwerlichen Wiſſen, Form ohne Stoff zu einem hohlen Waͤhnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/170
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/170>, abgerufen am 21.11.2024.