Alles was wir an Materialien zur Geschichte, was wir Geschichtliches einzeln ausgearbeitet zugleich über- liefern, wird nur der Commentar zu dem vorgesagten seyn. Die Naturwissenschaften haben sich bewunderns- würdig erweitert, aber keinesweges in einem stätigen Gange, auch nicht einmal stufenweise, sondern durch Auf- und Absteigen, durch Vor- und Rückwärts- wandeln in grader Linie oder in der Spirale; wo- bey sich denn von selbst versteht, daß man in jeder Epoche über seine Vorgänger weit erhaben zu seyn glaubte. Doch wir dürfen künftigen Betrachtungen nicht vorgreifen. Da wir die Theilnehmenden durch einen labyrinthischen Garten zu führen haben, so müs- sen wir ihnen und uns das Vergnügen mancher über- raschenden Aussicht vorbehalten.
Wenn nun derjenige, wo nicht für den Vorzüg- lichsten, doch für den Begabtesten und Glücklichsten zu halten wäre, der Ausdauer, Lust, Selbstverläug- nung genug hätte, sich mit dem Ueberlieferten völlig bekannt zu machen, und dabey noch Kraft und Muth genug behielte, sein originelles Wesen selbstständig aus- zubilden und das vielfach Aufgenommene nach seiner Weise zu bearbeiten und zu beleben: wie erfreulich muß es nicht seyn, wenn dergleichen Männer in der Ge- schichte der Wissenschaften uns, wiewohl selten ge- nug, wirklich begegnen. Ein solcher ist derjenige, zu dem wir uns nun wenden, der uns vor vielen andern treff- lichen Männern aus einer zwar regsamen, aber doch im- mer noch trüben Zeit, lebhaft und freudig entgegen tritt.
10 *
Alles was wir an Materialien zur Geſchichte, was wir Geſchichtliches einzeln ausgearbeitet zugleich uͤber- liefern, wird nur der Commentar zu dem vorgeſagten ſeyn. Die Naturwiſſenſchaften haben ſich bewunderns- wuͤrdig erweitert, aber keinesweges in einem ſtaͤtigen Gange, auch nicht einmal ſtufenweiſe, ſondern durch Auf- und Abſteigen, durch Vor- und Ruͤckwaͤrts- wandeln in grader Linie oder in der Spirale; wo- bey ſich denn von ſelbſt verſteht, daß man in jeder Epoche uͤber ſeine Vorgaͤnger weit erhaben zu ſeyn glaubte. Doch wir duͤrfen kuͤnftigen Betrachtungen nicht vorgreifen. Da wir die Theilnehmenden durch einen labyrinthiſchen Garten zu fuͤhren haben, ſo muͤſ- ſen wir ihnen und uns das Vergnuͤgen mancher uͤber- raſchenden Ausſicht vorbehalten.
Wenn nun derjenige, wo nicht fuͤr den Vorzuͤg- lichſten, doch fuͤr den Begabteſten und Gluͤcklichſten zu halten waͤre, der Ausdauer, Luſt, Selbſtverlaͤug- nung genug haͤtte, ſich mit dem Ueberlieferten voͤllig bekannt zu machen, und dabey noch Kraft und Muth genug behielte, ſein originelles Weſen ſelbſtſtaͤndig aus- zubilden und das vielfach Aufgenommene nach ſeiner Weiſe zu bearbeiten und zu beleben: wie erfreulich muß es nicht ſeyn, wenn dergleichen Maͤnner in der Ge- ſchichte der Wiſſenſchaften uns, wiewohl ſelten ge- nug, wirklich begegnen. Ein ſolcher iſt derjenige, zu dem wir uns nun wenden, der uns vor vielen andern treff- lichen Maͤnnern aus einer zwar regſamen, aber doch im- mer noch truͤben Zeit, lebhaft und freudig entgegen tritt.
10 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0181"n="147"/><p>Alles was wir an Materialien zur Geſchichte, was<lb/>
wir Geſchichtliches einzeln ausgearbeitet zugleich uͤber-<lb/>
liefern, wird nur der Commentar zu dem vorgeſagten<lb/>ſeyn. Die Naturwiſſenſchaften haben ſich bewunderns-<lb/>
wuͤrdig erweitert, aber keinesweges in einem ſtaͤtigen<lb/>
Gange, auch nicht einmal ſtufenweiſe, ſondern durch<lb/>
Auf- und Abſteigen, durch Vor- und Ruͤckwaͤrts-<lb/>
wandeln in grader Linie oder in der Spirale; wo-<lb/>
bey ſich denn von ſelbſt verſteht, daß man in jeder<lb/>
Epoche uͤber ſeine Vorgaͤnger weit erhaben zu ſeyn<lb/>
glaubte. Doch wir duͤrfen kuͤnftigen Betrachtungen<lb/>
nicht vorgreifen. Da wir die Theilnehmenden durch<lb/>
einen labyrinthiſchen Garten zu fuͤhren haben, ſo muͤſ-<lb/>ſen wir ihnen und uns das Vergnuͤgen mancher uͤber-<lb/>
raſchenden Ausſicht vorbehalten.</p><lb/><p>Wenn nun derjenige, wo nicht fuͤr den Vorzuͤg-<lb/>
lichſten, doch fuͤr den Begabteſten und Gluͤcklichſten<lb/>
zu halten waͤre, der Ausdauer, Luſt, Selbſtverlaͤug-<lb/>
nung genug haͤtte, ſich mit dem Ueberlieferten voͤllig<lb/>
bekannt zu machen, und dabey noch Kraft und Muth<lb/>
genug behielte, ſein originelles Weſen ſelbſtſtaͤndig aus-<lb/>
zubilden und das vielfach Aufgenommene nach ſeiner<lb/>
Weiſe zu bearbeiten und zu beleben: wie erfreulich muß<lb/>
es nicht ſeyn, wenn dergleichen Maͤnner in der Ge-<lb/>ſchichte der Wiſſenſchaften uns, wiewohl ſelten ge-<lb/>
nug, wirklich begegnen. Ein ſolcher iſt derjenige, zu dem<lb/>
wir uns nun wenden, der uns vor vielen andern treff-<lb/>
lichen Maͤnnern aus einer zwar regſamen, aber doch im-<lb/>
mer noch truͤben Zeit, lebhaft und freudig entgegen tritt.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="sig">10 *</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[147/0181]
Alles was wir an Materialien zur Geſchichte, was
wir Geſchichtliches einzeln ausgearbeitet zugleich uͤber-
liefern, wird nur der Commentar zu dem vorgeſagten
ſeyn. Die Naturwiſſenſchaften haben ſich bewunderns-
wuͤrdig erweitert, aber keinesweges in einem ſtaͤtigen
Gange, auch nicht einmal ſtufenweiſe, ſondern durch
Auf- und Abſteigen, durch Vor- und Ruͤckwaͤrts-
wandeln in grader Linie oder in der Spirale; wo-
bey ſich denn von ſelbſt verſteht, daß man in jeder
Epoche uͤber ſeine Vorgaͤnger weit erhaben zu ſeyn
glaubte. Doch wir duͤrfen kuͤnftigen Betrachtungen
nicht vorgreifen. Da wir die Theilnehmenden durch
einen labyrinthiſchen Garten zu fuͤhren haben, ſo muͤſ-
ſen wir ihnen und uns das Vergnuͤgen mancher uͤber-
raſchenden Ausſicht vorbehalten.
Wenn nun derjenige, wo nicht fuͤr den Vorzuͤg-
lichſten, doch fuͤr den Begabteſten und Gluͤcklichſten
zu halten waͤre, der Ausdauer, Luſt, Selbſtverlaͤug-
nung genug haͤtte, ſich mit dem Ueberlieferten voͤllig
bekannt zu machen, und dabey noch Kraft und Muth
genug behielte, ſein originelles Weſen ſelbſtſtaͤndig aus-
zubilden und das vielfach Aufgenommene nach ſeiner
Weiſe zu bearbeiten und zu beleben: wie erfreulich muß
es nicht ſeyn, wenn dergleichen Maͤnner in der Ge-
ſchichte der Wiſſenſchaften uns, wiewohl ſelten ge-
nug, wirklich begegnen. Ein ſolcher iſt derjenige, zu dem
wir uns nun wenden, der uns vor vielen andern treff-
lichen Maͤnnern aus einer zwar regſamen, aber doch im-
mer noch truͤben Zeit, lebhaft und freudig entgegen tritt.
10 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/181>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.