Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

ist, in die Region der Phantasie und Sinnlichkeit fre-
ventlich herüberzieht.

Dunklen Zeiten sind solche Mißgriffe nachzusehen;
sie gehören mit zum Charakter. Denn eigentlich er-
greift der Aberglaube nur falsche Mittel, um ein wah-
res Bedürfniß zu befriedigen, und ist deswegen weder
so scheltenswerth als er gehalten wird, noch so selten
in den sogenannten aufgeklärten Jahrhunderten und bey
aufgeklärten Menschen.

Denn wer kann sagen, daß er seine unerläßlichen
Bedürfnisse immer auf eine reine, richtige, wahre, un-
tadelhafte und vollständige Weise befriedige; daß er
sich nicht neben dem ernstesten Thun und Leisten, wie
mit Glauben und Hoffnung, so auch mit Aberglauben
und Wahn, Leichtsinn und Vorurtheil hinhalte.

Wie viel falsche Formeln zu Erklärung wahrer und
unläugbarer Phänomene finden sich nicht durch alle
Jahrhunderte bis zu uns herauf. Die Schriften Lu-
thers enthalten, wenn man will, viel mehr Aberglau-
ben, als die unsers englischen Mönchs. Wie bequem
macht sich's nicht Luther durch seinen Teufel, den er
überall bey der Hand hat, die wichtigsten Phänomene
der allgemeinen und besonders der menschlichen Natur
auf eine oberflächliche und barbarische Weise zu erklä-
ren und zu beseitigen; und doch ist und bleibt er, der
er war, außerordentlich für seine und für künftige Zei-
ten. Bey ihm kam es auf That an; er fühlte den

iſt, in die Region der Phantaſie und Sinnlichkeit fre-
ventlich heruͤberzieht.

Dunklen Zeiten ſind ſolche Mißgriffe nachzuſehen;
ſie gehoͤren mit zum Charakter. Denn eigentlich er-
greift der Aberglaube nur falſche Mittel, um ein wah-
res Beduͤrfniß zu befriedigen, und iſt deswegen weder
ſo ſcheltenswerth als er gehalten wird, noch ſo ſelten
in den ſogenannten aufgeklaͤrten Jahrhunderten und bey
aufgeklaͤrten Menſchen.

Denn wer kann ſagen, daß er ſeine unerlaͤßlichen
Beduͤrfniſſe immer auf eine reine, richtige, wahre, un-
tadelhafte und vollſtaͤndige Weiſe befriedige; daß er
ſich nicht neben dem ernſteſten Thun und Leiſten, wie
mit Glauben und Hoffnung, ſo auch mit Aberglauben
und Wahn, Leichtſinn und Vorurtheil hinhalte.

Wie viel falſche Formeln zu Erklaͤrung wahrer und
unlaͤugbarer Phaͤnomene finden ſich nicht durch alle
Jahrhunderte bis zu uns herauf. Die Schriften Lu-
thers enthalten, wenn man will, viel mehr Aberglau-
ben, als die unſers engliſchen Moͤnchs. Wie bequem
macht ſich’s nicht Luther durch ſeinen Teufel, den er
uͤberall bey der Hand hat, die wichtigſten Phaͤnomene
der allgemeinen und beſonders der menſchlichen Natur
auf eine oberflaͤchliche und barbariſche Weiſe zu erklaͤ-
ren und zu beſeitigen; und doch iſt und bleibt er, der
er war, außerordentlich fuͤr ſeine und fuͤr kuͤnftige Zei-
ten. Bey ihm kam es auf That an; er fuͤhlte den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0193" n="159"/>
i&#x017F;t, in die Region der Phanta&#x017F;ie und Sinnlichkeit fre-<lb/>
ventlich heru&#x0364;berzieht.</p><lb/>
          <p>Dunklen Zeiten &#x017F;ind &#x017F;olche Mißgriffe nachzu&#x017F;ehen;<lb/>
&#x017F;ie geho&#x0364;ren mit zum Charakter. Denn eigentlich er-<lb/>
greift der Aberglaube nur fal&#x017F;che Mittel, um ein wah-<lb/>
res Bedu&#x0364;rfniß zu befriedigen, und i&#x017F;t deswegen weder<lb/>
&#x017F;o &#x017F;cheltenswerth als er gehalten wird, noch &#x017F;o &#x017F;elten<lb/>
in den &#x017F;ogenannten aufgekla&#x0364;rten Jahrhunderten und bey<lb/>
aufgekla&#x0364;rten Men&#x017F;chen.</p><lb/>
          <p>Denn wer kann &#x017F;agen, daß er &#x017F;eine unerla&#x0364;ßlichen<lb/>
Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e immer auf eine reine, richtige, wahre, un-<lb/>
tadelhafte und voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Wei&#x017F;e befriedige; daß er<lb/>
&#x017F;ich nicht neben dem ern&#x017F;te&#x017F;ten Thun und Lei&#x017F;ten, wie<lb/>
mit Glauben und Hoffnung, &#x017F;o auch mit Aberglauben<lb/>
und Wahn, Leicht&#x017F;inn und Vorurtheil hinhalte.</p><lb/>
          <p>Wie viel fal&#x017F;che Formeln zu Erkla&#x0364;rung wahrer und<lb/>
unla&#x0364;ugbarer Pha&#x0364;nomene finden &#x017F;ich nicht durch alle<lb/>
Jahrhunderte bis zu uns herauf. Die Schriften Lu-<lb/>
thers enthalten, wenn man will, viel mehr Aberglau-<lb/>
ben, als die un&#x017F;ers engli&#x017F;chen Mo&#x0364;nchs. Wie bequem<lb/>
macht &#x017F;ich&#x2019;s nicht Luther durch &#x017F;einen Teufel, den er<lb/>
u&#x0364;berall bey der Hand hat, die wichtig&#x017F;ten Pha&#x0364;nomene<lb/>
der allgemeinen und be&#x017F;onders der men&#x017F;chlichen Natur<lb/>
auf eine oberfla&#x0364;chliche und barbari&#x017F;che Wei&#x017F;e zu erkla&#x0364;-<lb/>
ren und zu be&#x017F;eitigen; und doch i&#x017F;t und bleibt er, der<lb/>
er war, außerordentlich fu&#x0364;r &#x017F;eine und fu&#x0364;r ku&#x0364;nftige Zei-<lb/>
ten. Bey ihm kam es auf That an; er fu&#x0364;hlte den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0193] iſt, in die Region der Phantaſie und Sinnlichkeit fre- ventlich heruͤberzieht. Dunklen Zeiten ſind ſolche Mißgriffe nachzuſehen; ſie gehoͤren mit zum Charakter. Denn eigentlich er- greift der Aberglaube nur falſche Mittel, um ein wah- res Beduͤrfniß zu befriedigen, und iſt deswegen weder ſo ſcheltenswerth als er gehalten wird, noch ſo ſelten in den ſogenannten aufgeklaͤrten Jahrhunderten und bey aufgeklaͤrten Menſchen. Denn wer kann ſagen, daß er ſeine unerlaͤßlichen Beduͤrfniſſe immer auf eine reine, richtige, wahre, un- tadelhafte und vollſtaͤndige Weiſe befriedige; daß er ſich nicht neben dem ernſteſten Thun und Leiſten, wie mit Glauben und Hoffnung, ſo auch mit Aberglauben und Wahn, Leichtſinn und Vorurtheil hinhalte. Wie viel falſche Formeln zu Erklaͤrung wahrer und unlaͤugbarer Phaͤnomene finden ſich nicht durch alle Jahrhunderte bis zu uns herauf. Die Schriften Lu- thers enthalten, wenn man will, viel mehr Aberglau- ben, als die unſers engliſchen Moͤnchs. Wie bequem macht ſich’s nicht Luther durch ſeinen Teufel, den er uͤberall bey der Hand hat, die wichtigſten Phaͤnomene der allgemeinen und beſonders der menſchlichen Natur auf eine oberflaͤchliche und barbariſche Weiſe zu erklaͤ- ren und zu beſeitigen; und doch iſt und bleibt er, der er war, außerordentlich fuͤr ſeine und fuͤr kuͤnftige Zei- ten. Bey ihm kam es auf That an; er fuͤhlte den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/193
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/193>, abgerufen am 21.11.2024.