Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.In allen Gemälden der besten Meister aus der Die großen venezianischen Meister des Colorits Tizian hat vor den Uebrigen oft weißes Gewand In allen Gemaͤlden der beſten Meiſter aus der Die großen venezianiſchen Meiſter des Colorits Tizian hat vor den Uebrigen oft weißes Gewand <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0393" n="359"/> <p>In allen Gemaͤlden der beſten Meiſter aus der<lb/> venezianiſchen Schule glauben wir ein Uebergewicht<lb/> der activen Farben wahrgenommen zu haben. Daher<lb/> kommt das Warme und Ruhige im Ganzen. Das<lb/> Auge wird zwar nicht durch buntes regelloſes Farben-<lb/> gewirre unangenehm erſchuͤttert, aber auch nicht ver-<lb/> mittelſt des harmoniſchen heitern Spiels des geſamm-<lb/> ten Farbenkreiſes erfreulich beruͤhrt.</p><lb/> <p>Die großen venezianiſchen Meiſter des Colorits<lb/> haben faſt ohne Ausnahme die Regel beobachtet, ſich<lb/> ungemiſchter ganzer Farben zu den Gewaͤndern zu be-<lb/> dienen, damit die gemiſchten Tinten des Fleiſches beſ-<lb/> ſer gehoben werden, jene hingegen als Maſſen von<lb/> entſchiedener Farbe deutlicher in die Augen fallen ſoll-<lb/> ten. Changeante Gewaͤnder findet man daher nie, oder<lb/> nur als hoͤchſt ſeltene Ausnahmen. Sogar das Violette<lb/> ſcheint als eine gemiſchte Farbe betrachtet und nicht<lb/> eben beliebt geweſen zu ſeyn.</p><lb/> <p>Tizian hat vor den Uebrigen oft weißes Gewand<lb/> oder Leinenzeug angebracht und ſolches vorzuͤglich gut<lb/> gemalt. In Hinſicht auf Harmonie der Farben war<lb/> dabey ſein Zweck, die zarten Fleiſchtinten ſeiner nakten<lb/> weiblichen Figuren vortheilhaft zu heben und bluͤhen-<lb/> der erſcheinen zu laſſen. Ja er hatte ſich’s wie zum<lb/> Geſetz gemacht, wo immer moͤglich zwiſchen lich-<lb/> tes Fleiſch und farbiges Gewand etwas Weiß anzu-<lb/> bringen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [359/0393]
In allen Gemaͤlden der beſten Meiſter aus der
venezianiſchen Schule glauben wir ein Uebergewicht
der activen Farben wahrgenommen zu haben. Daher
kommt das Warme und Ruhige im Ganzen. Das
Auge wird zwar nicht durch buntes regelloſes Farben-
gewirre unangenehm erſchuͤttert, aber auch nicht ver-
mittelſt des harmoniſchen heitern Spiels des geſamm-
ten Farbenkreiſes erfreulich beruͤhrt.
Die großen venezianiſchen Meiſter des Colorits
haben faſt ohne Ausnahme die Regel beobachtet, ſich
ungemiſchter ganzer Farben zu den Gewaͤndern zu be-
dienen, damit die gemiſchten Tinten des Fleiſches beſ-
ſer gehoben werden, jene hingegen als Maſſen von
entſchiedener Farbe deutlicher in die Augen fallen ſoll-
ten. Changeante Gewaͤnder findet man daher nie, oder
nur als hoͤchſt ſeltene Ausnahmen. Sogar das Violette
ſcheint als eine gemiſchte Farbe betrachtet und nicht
eben beliebt geweſen zu ſeyn.
Tizian hat vor den Uebrigen oft weißes Gewand
oder Leinenzeug angebracht und ſolches vorzuͤglich gut
gemalt. In Hinſicht auf Harmonie der Farben war
dabey ſein Zweck, die zarten Fleiſchtinten ſeiner nakten
weiblichen Figuren vortheilhaft zu heben und bluͤhen-
der erſcheinen zu laſſen. Ja er hatte ſich’s wie zum
Geſetz gemacht, wo immer moͤglich zwiſchen lich-
tes Fleiſch und farbiges Gewand etwas Weiß anzu-
bringen.
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/393>, abgerufen am 26.06.2024. |