Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Prisma angeschaute weiße Wand nach wie vor weiß
blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran stieß, sich
eine mehr oder weniger entschiedene Farbe zeigte, daß
zuletzt die Fensterstäbe am allerlebhaftesten farbig erschie-
nen, indessen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur
von Färbung zu sehen war. Es bedurfte keiner langen
Ueberlegung, so erkannte ich, daß eine Gränze noth-
wendig sey, um Farben hervorzubringen, und ich
sprach wie durch einen Instinct sogleich vor mich laut
aus, daß die Newtonische Lehre falsch sey. Nun war
an keine Zurücksendung der Prismen mehr zu denken.
Durch mancherley Ueberredungen und Gefälligkeiten
suchte ich den Eigenthümer zu beruhigen, welches mir
auch gelang. Ich vereinfachte nunmehr die mir in
Zimmern und im Freyen durchs Prisma vorkommen-
den zufälligen Phänomene, und erhob sie, indem ich
mich bloß schwarzer und weißer Tafeln bediente, zu
bequemen Versuchen.

Die beyden sich immer einander entgegengesetzten
Ränder, die Verbreiterung derselben, das Uebereinan-
dergreifen über einen hellen Streif und das dadurch ent-
stehende Grün, wie die Entstehung des Nothen beym
Uebereinandergreifen über einen dunklen Streif, alles
entwickelte sich vor mir nach und nach. Auf einen
schwarzen Grund hatte ich eine weiße Scheibe gebracht,
welche in einer gewissen Entfernung durchs Prisma an-
gesehen, das bekannte Spectrum vorstellte, und voll-
kommen den Newtonischen Hauptversuch in der Camera-
obscura vertrat. Eine schwarze Scheibe auf hellem

Prisma angeſchaute weiße Wand nach wie vor weiß
blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran ſtieß, ſich
eine mehr oder weniger entſchiedene Farbe zeigte, daß
zuletzt die Fenſterſtaͤbe am allerlebhafteſten farbig erſchie-
nen, indeſſen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur
von Faͤrbung zu ſehen war. Es bedurfte keiner langen
Ueberlegung, ſo erkannte ich, daß eine Graͤnze noth-
wendig ſey, um Farben hervorzubringen, und ich
ſprach wie durch einen Inſtinct ſogleich vor mich laut
aus, daß die Newtoniſche Lehre falſch ſey. Nun war
an keine Zuruͤckſendung der Prismen mehr zu denken.
Durch mancherley Ueberredungen und Gefaͤlligkeiten
ſuchte ich den Eigenthuͤmer zu beruhigen, welches mir
auch gelang. Ich vereinfachte nunmehr die mir in
Zimmern und im Freyen durchs Prisma vorkommen-
den zufaͤlligen Phaͤnomene, und erhob ſie, indem ich
mich bloß ſchwarzer und weißer Tafeln bediente, zu
bequemen Verſuchen.

Die beyden ſich immer einander entgegengeſetzten
Raͤnder, die Verbreiterung derſelben, das Uebereinan-
dergreifen uͤber einen hellen Streif und das dadurch ent-
ſtehende Gruͤn, wie die Entſtehung des Nothen beym
Uebereinandergreifen uͤber einen dunklen Streif, alles
entwickelte ſich vor mir nach und nach. Auf einen
ſchwarzen Grund hatte ich eine weiße Scheibe gebracht,
welche in einer gewiſſen Entfernung durchs Prisma an-
geſehen, das bekannte Spectrum vorſtellte, und voll-
kommen den Newtoniſchen Hauptverſuch in der Camera-
obscura vertrat. Eine ſchwarze Scheibe auf hellem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0712" n="678"/>
Prisma ange&#x017F;chaute weiße Wand nach wie vor weiß<lb/>
blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran &#x017F;tieß, &#x017F;ich<lb/>
eine mehr oder weniger ent&#x017F;chiedene Farbe zeigte, daß<lb/>
zuletzt die Fen&#x017F;ter&#x017F;ta&#x0364;be am allerlebhafte&#x017F;ten farbig er&#x017F;chie-<lb/>
nen, inde&#x017F;&#x017F;en am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur<lb/>
von Fa&#x0364;rbung zu &#x017F;ehen war. Es bedurfte keiner langen<lb/>
Ueberlegung, &#x017F;o erkannte ich, daß eine Gra&#x0364;nze noth-<lb/>
wendig &#x017F;ey, um Farben hervorzubringen, und ich<lb/>
&#x017F;prach wie durch einen In&#x017F;tinct &#x017F;ogleich vor mich laut<lb/>
aus, daß die Newtoni&#x017F;che Lehre fal&#x017F;ch &#x017F;ey. Nun war<lb/>
an keine Zuru&#x0364;ck&#x017F;endung der Prismen mehr zu denken.<lb/>
Durch mancherley Ueberredungen und Gefa&#x0364;lligkeiten<lb/>
&#x017F;uchte ich den Eigenthu&#x0364;mer zu beruhigen, welches mir<lb/>
auch gelang. Ich vereinfachte nunmehr die mir in<lb/>
Zimmern und im Freyen durchs Prisma vorkommen-<lb/>
den zufa&#x0364;lligen Pha&#x0364;nomene, und erhob &#x017F;ie, indem ich<lb/>
mich bloß &#x017F;chwarzer und weißer Tafeln bediente, zu<lb/>
bequemen Ver&#x017F;uchen.</p><lb/>
            <p>Die beyden &#x017F;ich immer einander entgegenge&#x017F;etzten<lb/>
Ra&#x0364;nder, die Verbreiterung der&#x017F;elben, das Uebereinan-<lb/>
dergreifen u&#x0364;ber einen hellen Streif und das dadurch ent-<lb/>
&#x017F;tehende Gru&#x0364;n, wie die Ent&#x017F;tehung des Nothen beym<lb/>
Uebereinandergreifen u&#x0364;ber einen dunklen Streif, alles<lb/>
entwickelte &#x017F;ich vor mir nach und nach. Auf einen<lb/>
&#x017F;chwarzen Grund hatte ich eine weiße Scheibe gebracht,<lb/>
welche in einer gewi&#x017F;&#x017F;en Entfernung durchs Prisma an-<lb/>
ge&#x017F;ehen, das bekannte Spectrum vor&#x017F;tellte, und voll-<lb/>
kommen den Newtoni&#x017F;chen Hauptver&#x017F;uch in der Camera-<lb/>
obscura vertrat. Eine &#x017F;chwarze Scheibe auf hellem<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[678/0712] Prisma angeſchaute weiße Wand nach wie vor weiß blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran ſtieß, ſich eine mehr oder weniger entſchiedene Farbe zeigte, daß zuletzt die Fenſterſtaͤbe am allerlebhafteſten farbig erſchie- nen, indeſſen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur von Faͤrbung zu ſehen war. Es bedurfte keiner langen Ueberlegung, ſo erkannte ich, daß eine Graͤnze noth- wendig ſey, um Farben hervorzubringen, und ich ſprach wie durch einen Inſtinct ſogleich vor mich laut aus, daß die Newtoniſche Lehre falſch ſey. Nun war an keine Zuruͤckſendung der Prismen mehr zu denken. Durch mancherley Ueberredungen und Gefaͤlligkeiten ſuchte ich den Eigenthuͤmer zu beruhigen, welches mir auch gelang. Ich vereinfachte nunmehr die mir in Zimmern und im Freyen durchs Prisma vorkommen- den zufaͤlligen Phaͤnomene, und erhob ſie, indem ich mich bloß ſchwarzer und weißer Tafeln bediente, zu bequemen Verſuchen. Die beyden ſich immer einander entgegengeſetzten Raͤnder, die Verbreiterung derſelben, das Uebereinan- dergreifen uͤber einen hellen Streif und das dadurch ent- ſtehende Gruͤn, wie die Entſtehung des Nothen beym Uebereinandergreifen uͤber einen dunklen Streif, alles entwickelte ſich vor mir nach und nach. Auf einen ſchwarzen Grund hatte ich eine weiße Scheibe gebracht, welche in einer gewiſſen Entfernung durchs Prisma an- geſehen, das bekannte Spectrum vorſtellte, und voll- kommen den Newtoniſchen Hauptverſuch in der Camera- obscura vertrat. Eine ſchwarze Scheibe auf hellem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/712
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/712>, abgerufen am 02.06.2024.