Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. Tübingen, 1808.Wenn erst die Schande wird geboren, Wird sie heimlich zur Welt gebracht, Und man zieht den Schleyer der Nacht Ihr über Kopf und Ohren; Ja, man möchte sie gern ermorden. Wächst sie aber und macht sich groß, Dann geht sie auch bey Tage bloß, Und ist doch nicht schöner geworden. Je häßlicher wird ihr Gesicht, Je mehr sucht sie des Tageslicht. Ich seh' wahrhaftig schon die Zeit Daß alle brave Bürgersleut' Wie von einer angesteckten Leichen Von dir, du Metze! seitab weichen. Dir soll das Herz im Leib verzagen! Wenn sie dir in die Augen sehn. Sollst keine goldne Kette mehr tragen! In der Kirche nicht mehr am Altar stehn In einem schönen Spitzenkragen Dich nicht beym Tanze wohlbehagen! In eine finstre Jammerecken Wenn erſt die Schande wird geboren, Wird ſie heimlich zur Welt gebracht, Und man zieht den Schleyer der Nacht Ihr uͤber Kopf und Ohren; Ja, man moͤchte ſie gern ermorden. Waͤchſt ſie aber und macht ſich groß, Dann geht ſie auch bey Tage bloß, Und iſt doch nicht ſchoͤner geworden. Je haͤßlicher wird ihr Geſicht, Je mehr ſucht ſie des Tageslicht. Ich ſeh’ wahrhaftig ſchon die Zeit Daß alle brave Buͤrgersleut’ Wie von einer angeſteckten Leichen Von dir, du Metze! ſeitab weichen. Dir ſoll das Herz im Leib verzagen! Wenn ſie dir in die Augen ſehn. Sollſt keine goldne Kette mehr tragen! In der Kirche nicht mehr am Altar ſtehn In einem ſchoͤnen Spitzenkragen Dich nicht beym Tanze wohlbehagen! In eine finſtre Jammerecken <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#VAL"> <pb facs="#f0256" n="250"/> <p>Wenn erſt die Schande wird geboren,<lb/> Wird ſie heimlich zur Welt gebracht,<lb/> Und man zieht den Schleyer der Nacht<lb/> Ihr uͤber Kopf und Ohren;<lb/> Ja, man moͤchte ſie gern ermorden.<lb/> Waͤchſt ſie aber und macht ſich groß,<lb/> Dann geht ſie auch bey Tage bloß,<lb/> Und iſt doch nicht ſchoͤner geworden.<lb/> Je haͤßlicher wird ihr Geſicht,<lb/> Je mehr ſucht ſie des Tageslicht.</p><lb/> <p>Ich ſeh’ wahrhaftig ſchon die Zeit<lb/> Daß alle brave Buͤrgersleut’<lb/> Wie von einer angeſteckten Leichen<lb/> Von dir, du Metze! ſeitab weichen.<lb/> Dir ſoll das Herz im Leib verzagen!<lb/> Wenn ſie dir in die Augen ſehn.<lb/> Sollſt keine goldne Kette mehr tragen!<lb/> In der Kirche nicht mehr am Altar ſtehn<lb/> In einem ſchoͤnen Spitzenkragen<lb/> Dich nicht beym Tanze wohlbehagen!<lb/> In eine finſtre Jammerecken<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [250/0256]
Wenn erſt die Schande wird geboren,
Wird ſie heimlich zur Welt gebracht,
Und man zieht den Schleyer der Nacht
Ihr uͤber Kopf und Ohren;
Ja, man moͤchte ſie gern ermorden.
Waͤchſt ſie aber und macht ſich groß,
Dann geht ſie auch bey Tage bloß,
Und iſt doch nicht ſchoͤner geworden.
Je haͤßlicher wird ihr Geſicht,
Je mehr ſucht ſie des Tageslicht.
Ich ſeh’ wahrhaftig ſchon die Zeit
Daß alle brave Buͤrgersleut’
Wie von einer angeſteckten Leichen
Von dir, du Metze! ſeitab weichen.
Dir ſoll das Herz im Leib verzagen!
Wenn ſie dir in die Augen ſehn.
Sollſt keine goldne Kette mehr tragen!
In der Kirche nicht mehr am Altar ſtehn
In einem ſchoͤnen Spitzenkragen
Dich nicht beym Tanze wohlbehagen!
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. Tübingen, 1808, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust01_1808/256>, abgerufen am 16.07.2024. |