als Kind Blumen zerpflückt, um zu sehen, wie die Blätter in den Kelch, oder auch Vö¬ gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬ dern in die Flügel eingefügt waren. Ist doch Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher öfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬ knüpfen, mehr durch Tödten als durch Bele¬ ben, sich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetstein, sehr zier¬ lich in Scharlachtuch eingenäht, mußte auch eines Tages die Wirkung einer solchen For¬ schungslust erfahren. Denn diese geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepaßte Eisenstäbchen ausübte, sondern die noch überdieß von der Art war, daß sie sich verstärken und täglich ein größres Gewicht tragen konnte, diese geheimnißvolle Tugend hatte mich dergestalt zur Bewunde¬ rung hingerissen, daß ich mir lange Zeit blos im Anstaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt
l. 18
als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu ſehen, wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬ gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬ dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Iſt doch Kindern dieſes nicht zu verdenken, da ja ſelbſt Naturforſcher oͤfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬ knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬ ben, ſich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetſtein, ſehr zier¬ lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch eines Tages die Wirkung einer ſolchen For¬ ſchungsluſt erfahren. Denn dieſe geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepaßte Eiſenſtaͤbchen ausuͤbte, ſondern die noch uͤberdieß von der Art war, daß ſie ſich verſtaͤrken und taͤglich ein groͤßres Gewicht tragen konnte, dieſe geheimnißvolle Tugend hatte mich dergeſtalt zur Bewunde¬ rung hingeriſſen, daß ich mir lange Zeit blos im Anſtaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt
l. 18
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0289"n="273"/>
als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu ſehen,<lb/>
wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬<lb/>
gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬<lb/>
dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Iſt<lb/>
doch Kindern dieſes nicht zu verdenken, da<lb/>
ja ſelbſt Naturforſcher oͤfter durch Trennen<lb/>
und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬<lb/>
knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬<lb/>
ben, ſich zu unterrichten glauben.</p><lb/><p>Ein bewaffneter Magnetſtein, ſehr zier¬<lb/>
lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch<lb/>
eines Tages die Wirkung einer ſolchen For¬<lb/>ſchungsluſt erfahren. Denn dieſe geheime<lb/>
Anziehungskraft, die er nicht allein gegen<lb/>
das ihm angepaßte Eiſenſtaͤbchen ausuͤbte,<lb/>ſondern die noch uͤberdieß von der Art war,<lb/>
daß ſie ſich verſtaͤrken und taͤglich ein groͤßres<lb/>
Gewicht tragen konnte, dieſe geheimnißvolle<lb/>
Tugend hatte mich dergeſtalt zur Bewunde¬<lb/>
rung hingeriſſen, daß ich mir lange Zeit blos<lb/>
im Anſtaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">l. 18<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[273/0289]
als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu ſehen,
wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬
gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬
dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Iſt
doch Kindern dieſes nicht zu verdenken, da
ja ſelbſt Naturforſcher oͤfter durch Trennen
und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬
knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬
ben, ſich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetſtein, ſehr zier¬
lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch
eines Tages die Wirkung einer ſolchen For¬
ſchungsluſt erfahren. Denn dieſe geheime
Anziehungskraft, die er nicht allein gegen
das ihm angepaßte Eiſenſtaͤbchen ausuͤbte,
ſondern die noch uͤberdieß von der Art war,
daß ſie ſich verſtaͤrken und taͤglich ein groͤßres
Gewicht tragen konnte, dieſe geheimnißvolle
Tugend hatte mich dergeſtalt zur Bewunde¬
rung hingeriſſen, daß ich mir lange Zeit blos
im Anſtaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt
l. 18
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/289>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.