Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von
ihr an mich könnte gerichtet werden. So
mystificirte ich mich selbst, indem ich meynte
einen andern zum Besten zu haben, und es
sollte mir daraus noch manche Freude und
manches Ungemach entspringen. Als ich
abermals gemahnt wurde, war ich fertig,
versprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬
stimmten Stunde. Es war nur einer von
den jungen Leuten zu Hause; Gretchen saß
am Fenster und spann; die Mutter ging ab
und zu. Der junge Mensch verlangte, daß
ich's ihm vorlesen sollte; ich that es, und
las nicht ohne Rührung, indem ich über das
Blatt weg nach dem schönen Kinde hin¬
schielte, und da ich eine gewisse Unruhe ih¬
res Wesens, eine leichte Röthe ihrer Wangen
zu bemerken glaubte, drückte ich nur besser
und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬
nehmen wünschte. Der Vetter, der mich oft
durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬
suchte mich zuletzt um einige Abänderungen.

lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von
ihr an mich koͤnnte gerichtet werden. So
myſtificirte ich mich ſelbſt, indem ich meynte
einen andern zum Beſten zu haben, und es
ſollte mir daraus noch manche Freude und
manches Ungemach entſpringen. Als ich
abermals gemahnt wurde, war ich fertig,
verſprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬
ſtimmten Stunde. Es war nur einer von
den jungen Leuten zu Hauſe; Gretchen ſaß
am Fenſter und ſpann; die Mutter ging ab
und zu. Der junge Menſch verlangte, daß
ich's ihm vorleſen ſollte; ich that es, und
las nicht ohne Ruͤhrung, indem ich uͤber das
Blatt weg nach dem ſchoͤnen Kinde hin¬
ſchielte, und da ich eine gewiſſe Unruhe ih¬
res Weſens, eine leichte Roͤthe ihrer Wangen
zu bemerken glaubte, druͤckte ich nur beſſer
und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬
nehmen wuͤnſchte. Der Vetter, der mich oft
durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬
ſuchte mich zuletzt um einige Abaͤnderungen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0415" n="399"/>
lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von<lb/>
ihr an mich ko&#x0364;nnte gerichtet werden. So<lb/>
my&#x017F;tificirte ich mich &#x017F;elb&#x017F;t, indem ich meynte<lb/>
einen andern zum Be&#x017F;ten zu haben, und es<lb/>
&#x017F;ollte mir daraus noch manche Freude und<lb/>
manches Ungemach ent&#x017F;pringen. Als ich<lb/>
abermals gemahnt wurde, war ich fertig,<lb/>
ver&#x017F;prach zu kommen und fehlte nicht zur be¬<lb/>
&#x017F;timmten Stunde. Es war nur einer von<lb/>
den jungen Leuten zu Hau&#x017F;e; Gretchen &#x017F;<lb/>
am Fen&#x017F;ter und &#x017F;pann; die Mutter ging ab<lb/>
und zu. Der junge Men&#x017F;ch verlangte, daß<lb/>
ich's ihm vorle&#x017F;en &#x017F;ollte; ich that es, und<lb/>
las nicht ohne Ru&#x0364;hrung, indem ich u&#x0364;ber das<lb/>
Blatt weg nach dem &#x017F;cho&#x0364;nen Kinde hin¬<lb/>
&#x017F;chielte, und da ich eine gewi&#x017F;&#x017F;e Unruhe ih¬<lb/>
res We&#x017F;ens, eine leichte Ro&#x0364;the ihrer Wangen<lb/>
zu bemerken glaubte, dru&#x0364;ckte ich nur be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬<lb/>
nehmen wu&#x0364;n&#x017F;chte. Der Vetter, der mich oft<lb/>
durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬<lb/>
&#x017F;uchte mich zuletzt um einige Aba&#x0364;nderungen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0415] lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von ihr an mich koͤnnte gerichtet werden. So myſtificirte ich mich ſelbſt, indem ich meynte einen andern zum Beſten zu haben, und es ſollte mir daraus noch manche Freude und manches Ungemach entſpringen. Als ich abermals gemahnt wurde, war ich fertig, verſprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬ ſtimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu Hauſe; Gretchen ſaß am Fenſter und ſpann; die Mutter ging ab und zu. Der junge Menſch verlangte, daß ich's ihm vorleſen ſollte; ich that es, und las nicht ohne Ruͤhrung, indem ich uͤber das Blatt weg nach dem ſchoͤnen Kinde hin¬ ſchielte, und da ich eine gewiſſe Unruhe ih¬ res Weſens, eine leichte Roͤthe ihrer Wangen zu bemerken glaubte, druͤckte ich nur beſſer und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬ nehmen wuͤnſchte. Der Vetter, der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬ ſuchte mich zuletzt um einige Abaͤnderungen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/415
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/415>, abgerufen am 24.11.2024.