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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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sie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬
wesen wäre.

Das Leichen-Carmen war verzehrt, das
Hochzeit-Gedicht stand nun auch wohlthätig in
der Nähe; ich überwand alle Furcht und Sorge
und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine
eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬
nigen zu verbergen. Das liebe Mädchen zu
sehen und neben ihr zu seyn, war nun bald
eine unerläßliche Bedingung meines Wesens.
Jene hatten sich eben so an mich gewöhnt,
und wir waren fast täglich zusammen, als
wenn es nicht anders seyn könnte. Pylades
hatte indessen seine Schöne auch in das Haus
gebracht, und dieses Paar verlebte manchen
Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬
gleich noch sehr im Keime, verbargen doch
nicht ihre Zärtlichkeit; Gretchens Betragen
gegen mich war nur geschickt, mich in Ent¬
fernung zu halten. Sie gab Niemanden die
Hand, auch nicht mir; sie litt keine Berüh¬

ſie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬
weſen waͤre.

Das Leichen-Carmen war verzehrt, das
Hochzeit-Gedicht ſtand nun auch wohlthaͤtig in
der Naͤhe; ich uͤberwand alle Furcht und Sorge
und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine
eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬
nigen zu verbergen. Das liebe Maͤdchen zu
ſehen und neben ihr zu ſeyn, war nun bald
eine unerlaͤßliche Bedingung meines Weſens.
Jene hatten ſich eben ſo an mich gewoͤhnt,
und wir waren faſt taͤglich zuſammen, als
wenn es nicht anders ſeyn koͤnnte. Pylades
hatte indeſſen ſeine Schoͤne auch in das Haus
gebracht, und dieſes Paar verlebte manchen
Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬
gleich noch ſehr im Keime, verbargen doch
nicht ihre Zaͤrtlichkeit; Gretchens Betragen
gegen mich war nur geſchickt, mich in Ent¬
fernung zu halten. Sie gab Niemanden die
Hand, auch nicht mir; ſie litt keine Beruͤh¬

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[415/0431] ſie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬ weſen waͤre. Das Leichen-Carmen war verzehrt, das Hochzeit-Gedicht ſtand nun auch wohlthaͤtig in der Naͤhe; ich uͤberwand alle Furcht und Sorge und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬ nigen zu verbergen. Das liebe Maͤdchen zu ſehen und neben ihr zu ſeyn, war nun bald eine unerlaͤßliche Bedingung meines Weſens. Jene hatten ſich eben ſo an mich gewoͤhnt, und wir waren faſt taͤglich zuſammen, als wenn es nicht anders ſeyn koͤnnte. Pylades hatte indeſſen ſeine Schoͤne auch in das Haus gebracht, und dieſes Paar verlebte manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬ gleich noch ſehr im Keime, verbargen doch nicht ihre Zaͤrtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich war nur geſchickt, mich in Ent¬ fernung zu halten. Sie gab Niemanden die Hand, auch nicht mir; ſie litt keine Beruͤh¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/431>, abgerufen am 24.11.2024.