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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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begrüßt, als ich im Fenster ein Frauenzimmer
sitzen sah, das mir unter einem Spitzenhäub¬
chen gar jung und hübsch, und unter einer
seidnen Mantille sehr wohl gebaut schien.
Ich konnte leicht an ihr eine Gehülfinn erken¬
nen, denn sie war beschäftigt, Band und
Federn auf ein Hütchen zu stecken. Die Putz¬
händlerinn zeigte mir den langen Kasten mit
einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich
besah sie, und blickte, indem ich wählte,
wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenster:
aber wie groß war mein Erstaunen, als ich
eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen
gewahr wurde, ja zuletzt mich überzeugen
mußte, es sey Gretchen selbst. Auch blieb
mir kein Zweifel übrig, als sie mir mit den
Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich
unsre Bekanntschaft nicht verrathen sollte.
Nun brachte ich mit Wählen und Verwerfen
die Putzhändlerinn in Verzweiflung, mehr
als ein Frauenzimmer selbst hätte thun kön¬
nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn

begruͤßt, als ich im Fenſter ein Frauenzimmer
ſitzen ſah, das mir unter einem Spitzenhaͤub¬
chen gar jung und huͤbſch, und unter einer
ſeidnen Mantille ſehr wohl gebaut ſchien.
Ich konnte leicht an ihr eine Gehuͤlfinn erken¬
nen, denn ſie war beſchaͤftigt, Band und
Federn auf ein Huͤtchen zu ſtecken. Die Putz¬
haͤndlerinn zeigte mir den langen Kaſten mit
einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich
beſah ſie, und blickte, indem ich waͤhlte,
wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenſter:
aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich
eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen
gewahr wurde, ja zuletzt mich uͤberzeugen
mußte, es ſey Gretchen ſelbſt. Auch blieb
mir kein Zweifel uͤbrig, als ſie mir mit den
Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich
unſre Bekanntſchaft nicht verrathen ſollte.
Nun brachte ich mit Waͤhlen und Verwerfen
die Putzhaͤndlerinn in Verzweiflung, mehr
als ein Frauenzimmer ſelbſt haͤtte thun koͤn¬
nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn

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[421/0437] begruͤßt, als ich im Fenſter ein Frauenzimmer ſitzen ſah, das mir unter einem Spitzenhaͤub¬ chen gar jung und huͤbſch, und unter einer ſeidnen Mantille ſehr wohl gebaut ſchien. Ich konnte leicht an ihr eine Gehuͤlfinn erken¬ nen, denn ſie war beſchaͤftigt, Band und Federn auf ein Huͤtchen zu ſtecken. Die Putz¬ haͤndlerinn zeigte mir den langen Kaſten mit einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich beſah ſie, und blickte, indem ich waͤhlte, wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenſter: aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen gewahr wurde, ja zuletzt mich uͤberzeugen mußte, es ſey Gretchen ſelbſt. Auch blieb mir kein Zweifel uͤbrig, als ſie mir mit den Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich unſre Bekanntſchaft nicht verrathen ſollte. Nun brachte ich mit Waͤhlen und Verwerfen die Putzhaͤndlerinn in Verzweiflung, mehr als ein Frauenzimmer ſelbſt haͤtte thun koͤn¬ nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/437>, abgerufen am 24.11.2024.