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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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ließ, hielt diese nicht allein für die allerbesten,
sondern war völlig überzeugt, er habe sie
selbst gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬
teren Verhältniß, worin ich mit ihm stand,
jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun
solchen Irrthum und Wahnsinn offenbar vor
mir sah, fiel es mir eines Tages aufs Herz,
ob ich mich vielleicht selbst in dem Falle be¬
fände, ob nicht jene Gedichte wirklich besser
seyen als die meinigen, und ob ich nicht mit
Recht jenen Knaben eben so toll als sie mir
vorkommen möchte? Dieses beunruhigte mich
sehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬
aus unmöglich, ein äußeres Kennzeichen der
Wahrheit zu finden; ja ich stockte sogar in
meinen Hervorbringungen, bis mich endlich
Leichtsinn und Selbstgefühl und zuletzt eine
Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und
Aeltern, welche auf unsere Scherze aufmerk¬
sam geworden, aus dem Stegreif aufgaben,
wobey ich gut bestand und allgemeines Lob
davontrug.

ließ, hielt dieſe nicht allein fuͤr die allerbeſten,
ſondern war voͤllig uͤberzeugt, er habe ſie
ſelbſt gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬
teren Verhaͤltniß, worin ich mit ihm ſtand,
jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun
ſolchen Irrthum und Wahnſinn offenbar vor
mir ſah, fiel es mir eines Tages aufs Herz,
ob ich mich vielleicht ſelbſt in dem Falle be¬
faͤnde, ob nicht jene Gedichte wirklich beſſer
ſeyen als die meinigen, und ob ich nicht mit
Recht jenen Knaben eben ſo toll als ſie mir
vorkommen moͤchte? Dieſes beunruhigte mich
ſehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬
aus unmoͤglich, ein aͤußeres Kennzeichen der
Wahrheit zu finden; ja ich ſtockte ſogar in
meinen Hervorbringungen, bis mich endlich
Leichtſinn und Selbſtgefuͤhl und zuletzt eine
Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und
Aeltern, welche auf unſere Scherze aufmerk¬
ſam geworden, aus dem Stegreif aufgaben,
wobey ich gut beſtand und allgemeines Lob
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[62/0078] ließ, hielt dieſe nicht allein fuͤr die allerbeſten, ſondern war voͤllig uͤberzeugt, er habe ſie ſelbſt gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬ teren Verhaͤltniß, worin ich mit ihm ſtand, jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun ſolchen Irrthum und Wahnſinn offenbar vor mir ſah, fiel es mir eines Tages aufs Herz, ob ich mich vielleicht ſelbſt in dem Falle be¬ faͤnde, ob nicht jene Gedichte wirklich beſſer ſeyen als die meinigen, und ob ich nicht mit Recht jenen Knaben eben ſo toll als ſie mir vorkommen moͤchte? Dieſes beunruhigte mich ſehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬ aus unmoͤglich, ein aͤußeres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich ſtockte ſogar in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtſinn und Selbſtgefuͤhl und zuletzt eine Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und Aeltern, welche auf unſere Scherze aufmerk¬ ſam geworden, aus dem Stegreif aufgaben, wobey ich gut beſtand und allgemeines Lob davontrug.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/78>, abgerufen am 21.11.2024.