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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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vermehren wollte. Ich gewann es über mich;
indessen hielt man uns, nach herrschendem
Vorurtheil, so warm als möglich, und schärf¬
te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach
traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine
Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern
eine sichtbare Spur auf der Haut zurückge¬
lassen; aber die Bildung war merklich verän¬
dert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder
das Tageslicht zu sehen, und nach und nach
die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere
waren unbarmherzig genug, mich öfters an
den vorigen Zustand zu erinnern; besonders
eine sehr lebhafte Tante, die früher Abgötte¬
rey mit mir getrieben hatte, konnte mich,
selbst noch in spätern Jahren, selten ansehen,
ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie
garstig ist er geworden! Dann erzählte sie
mir umständlich, wie sie sich sonst an mir er¬
getzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie
mich umhergetragen; und so erfuhr ich früh¬
zeitig, daß uns die Menschen für das Ver¬

vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich;
indeſſen hielt man uns, nach herrſchendem
Vorurtheil, ſo warm als moͤglich, und ſchaͤrf¬
te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach
traurig verfloſſener Zeit, fiel es mir wie eine
Maske vom Geſicht, ohne daß die Blattern
eine ſichtbare Spur auf der Haut zuruͤckge¬
laſſen; aber die Bildung war merklich veraͤn¬
dert. Ich ſelbſt war zufrieden, nur wieder
das Tageslicht zu ſehen, und nach und nach
die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere
waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an
den vorigen Zuſtand zu erinnern; beſonders
eine ſehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtte¬
rey mit mir getrieben hatte, konnte mich,
ſelbſt noch in ſpaͤtern Jahren, ſelten anſehen,
ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie
garſtig iſt er geworden! Dann erzaͤhlte ſie
mir umſtaͤndlich, wie ſie ſich ſonſt an mir er¬
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[68/0084] vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich; indeſſen hielt man uns, nach herrſchendem Vorurtheil, ſo warm als moͤglich, und ſchaͤrf¬ te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach traurig verfloſſener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Geſicht, ohne daß die Blattern eine ſichtbare Spur auf der Haut zuruͤckge¬ laſſen; aber die Bildung war merklich veraͤn¬ dert. Ich ſelbſt war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu ſehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an den vorigen Zuſtand zu erinnern; beſonders eine ſehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtte¬ rey mit mir getrieben hatte, konnte mich, ſelbſt noch in ſpaͤtern Jahren, ſelten anſehen, ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie garſtig iſt er geworden! Dann erzaͤhlte ſie mir umſtaͤndlich, wie ſie ſich ſonſt an mir er¬ getzt, welches Aufſehen ſie erregt, wenn ſie mich umhergetragen; und ſo erfuhr ich fruͤh¬ zeitig, daß uns die Menſchen fuͤr das Ver¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/84>, abgerufen am 21.11.2024.