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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Für die Dichtkunst an und für sich hatte
man keinen Grundsatz finden können; sie war
zu geistig und flüchtig. Die Malerey, eine
Kunst, die man mit den Augen festhalten,
der man mit den äußeren Sinnen Schritt
vor Schritt nachgehen konnte, schien zu sol¬
chem Ende günstiger; Engländer und Franzo¬
sen hatten schon über bildende Kunst theore¬
tisirt, und man glaubte nun durch ein Gleich¬
niß von daher die Poesie zu begründen. Je¬
ne stellte Bilder vor die Augen, diese vor
die Phantasie; die poetischen Bilder also wa¬
ren das Erste, was in Betrachtung gezogen
wurde. Man fing von den Gleichnissen an,
Beschreibungen folgten, und was nur immer
den äußeren Sinnen darstellbar gewesen wäre,
kam zur Sprache.

Bilder also! Wo sollte man nun aber
diese Bilder anders hernehmen als aus der
Natur? Der Maler ahmte die Natur of¬
fenbar nach; warum der Dichter nicht auch?

Fuͤr die Dichtkunſt an und fuͤr ſich hatte
man keinen Grundſatz finden koͤnnen; ſie war
zu geiſtig und fluͤchtig. Die Malerey, eine
Kunſt, die man mit den Augen feſthalten,
der man mit den aͤußeren Sinnen Schritt
vor Schritt nachgehen konnte, ſchien zu ſol¬
chem Ende guͤnſtiger; Englaͤnder und Franzo¬
ſen hatten ſchon uͤber bildende Kunſt theore¬
tiſirt, und man glaubte nun durch ein Gleich¬
niß von daher die Poeſie zu begruͤnden. Je¬
ne ſtellte Bilder vor die Augen, dieſe vor
die Phantaſie; die poetiſchen Bilder alſo wa¬
ren das Erſte, was in Betrachtung gezogen
wurde. Man fing von den Gleichniſſen an,
Beſchreibungen folgten, und was nur immer
den aͤußeren Sinnen darſtellbar geweſen waͤre,
kam zur Sprache.

Bilder alſo! Wo ſollte man nun aber
dieſe Bilder anders hernehmen als aus der
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[116/0124] Fuͤr die Dichtkunſt an und fuͤr ſich hatte man keinen Grundſatz finden koͤnnen; ſie war zu geiſtig und fluͤchtig. Die Malerey, eine Kunſt, die man mit den Augen feſthalten, der man mit den aͤußeren Sinnen Schritt vor Schritt nachgehen konnte, ſchien zu ſol¬ chem Ende guͤnſtiger; Englaͤnder und Franzo¬ ſen hatten ſchon uͤber bildende Kunſt theore¬ tiſirt, und man glaubte nun durch ein Gleich¬ niß von daher die Poeſie zu begruͤnden. Je¬ ne ſtellte Bilder vor die Augen, dieſe vor die Phantaſie; die poetiſchen Bilder alſo wa¬ ren das Erſte, was in Betrachtung gezogen wurde. Man fing von den Gleichniſſen an, Beſchreibungen folgten, und was nur immer den aͤußeren Sinnen darſtellbar geweſen waͤre, kam zur Sprache. Bilder alſo! Wo ſollte man nun aber dieſe Bilder anders hernehmen als aus der Natur? Der Maler ahmte die Natur of¬ fenbar nach; warum der Dichter nicht auch?

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/124>, abgerufen am 11.05.2024.