Meine äußeren Verhältnisse hatten sich in¬ dessen nach Verlauf weniger Zeit gar sehr verän¬ dert. Madame Böhme war nach einer langen und traurigen Krankheit endlich gestorben; sie hatte mich zuletzt nicht mehr vor sich gelassen. Ihr Mann konnte nicht sonderlich mit mir zu¬ frieden seyn; ich schien ihm nicht fleißig genug und zu leichtsinnig. Besonders nahm er es mir sehr übel, als ihm verrathen wurde, daß ich im deutschen Staatsrechte, anstatt gehörig nachzuschreiben, die darin aufgeführten Perso¬ nen, als den Cammerrichter, die Präsidenten und Beysitzer, mit seltsamen Perücken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch diese Possen meine aufmerksamen Nachbarn zer¬ streut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte nach dem Verlust seiner Frau noch eingezogner als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um seinen Vorwürfen auszuweichen. Besonders aber war es ein Unglück, daß Gellert sich nicht der Gewalt bedienen wollte, die er über uns hätte ausüben können. Freylich hatte er nicht
II. 12
Meine aͤußeren Verhaͤltniſſe hatten ſich in¬ deſſen nach Verlauf weniger Zeit gar ſehr veraͤn¬ dert. Madame Boͤhme war nach einer langen und traurigen Krankheit endlich geſtorben; ſie hatte mich zuletzt nicht mehr vor ſich gelaſſen. Ihr Mann konnte nicht ſonderlich mit mir zu¬ frieden ſeyn; ich ſchien ihm nicht fleißig genug und zu leichtſinnig. Beſonders nahm er es mir ſehr uͤbel, als ihm verrathen wurde, daß ich im deutſchen Staatsrechte, anſtatt gehoͤrig nachzuſchreiben, die darin aufgefuͤhrten Perſo¬ nen, als den Cammerrichter, die Praͤſidenten und Beyſitzer, mit ſeltſamen Peruͤcken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch dieſe Poſſen meine aufmerkſamen Nachbarn zer¬ ſtreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte nach dem Verluſt ſeiner Frau noch eingezogner als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um ſeinen Vorwuͤrfen auszuweichen. Beſonders aber war es ein Ungluͤck, daß Gellert ſich nicht der Gewalt bedienen wollte, die er uͤber uns haͤtte ausuͤben koͤnnen. Freylich hatte er nicht
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Meine aͤußeren Verhaͤltniſſe hatten ſich in¬
deſſen nach Verlauf weniger Zeit gar ſehr veraͤn¬
dert. Madame Boͤhme war nach einer langen
und traurigen Krankheit endlich geſtorben; ſie
hatte mich zuletzt nicht mehr vor ſich gelaſſen.
Ihr Mann konnte nicht ſonderlich mit mir zu¬
frieden ſeyn; ich ſchien ihm nicht fleißig genug
und zu leichtſinnig. Beſonders nahm er es
mir ſehr uͤbel, als ihm verrathen wurde, daß
ich im deutſchen Staatsrechte, anſtatt gehoͤrig
nachzuſchreiben, die darin aufgefuͤhrten Perſo¬
nen, als den Cammerrichter, die Praͤſidenten
und Beyſitzer, mit ſeltſamen Peruͤcken an dem
Rand meines Heftes abgebildet und durch dieſe
Poſſen meine aufmerkſamen Nachbarn zer¬
ſtreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte
nach dem Verluſt ſeiner Frau noch eingezogner
als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um
ſeinen Vorwuͤrfen auszuweichen. Beſonders
aber war es ein Ungluͤck, daß Gellert ſich nicht
der Gewalt bedienen wollte, die er uͤber uns
haͤtte ausuͤben koͤnnen. Freylich hatte er nicht
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/185>, abgerufen am 21.11.2024.
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