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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Gellert hatte sich nach seinem frommen
Gemüth eine Moral aufgesetzt, welche er von
Zeit zu Zeit öffentlich ablas, und sich dadurch
gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬
se seiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬
ten waren so lange Zeit schon das Fundament
der deutschen sittlichen Cultur und Jedermann
wünschte sehnlich jenes Werk gedruckt zu se¬
hen, und da dieses nur nach des guten Man¬
nes Tode geschehen sollte, so hielt man sich
sehr glücklich, es bey seinem Leben von ihm
selbst vortragen zu hören. Das philosophi¬
sche Auditorium war in solchen Stunden ge¬
drängt voll, und die schöne Seele, der reine
Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an
unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnun¬
gen und Bitten, in einem etwas hohlen und
traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬
nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt
nicht lange nach, um so weniger als sich doch
manche Spötter fanden, welche diese weiche
und, wie sie glaubten, entnervende Manier

Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen
Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von
Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch
gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬
ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬
ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament
der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann
wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬
hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬
nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich
ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm
ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬
ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬
draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine
Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an
unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬
gen und Bitten, in einem etwas hohlen und
traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬
nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt
nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch
manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche
und, wie ſie glaubten, entnervende Manier

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[194/0202] Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬ ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬ ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬ hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬ nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬ ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬ draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬ gen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬ nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche und, wie ſie glaubten, entnervende Manier

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/202>, abgerufen am 10.05.2024.