Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel
nicht schwer, mich ihm zu nähern, und wir
spazirten öfters mit einander. Der Begriff
von Erfahrung war beynah fix in meinem
Gehirne geworden, und das Bedürfniß, mir
ihn klar zu machen, leidenschaftlich. Offenmü¬
thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬
he, in der ich mich befand. Er lächelte und
war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬
ner Fragen, etwas von seinem Leben und von
der nächsten Welt überhaupt zu erzählen, wo
bey freylich zuletzt wenig Besseres herauskam
als, daß die Erfahrung uns überzeuge, daß
unsere besten Gedanken, Wünsche und Versä¬
tze unerreichbar seyen, und daß man denjeni¬
gen, welcher dergleichen Grillen hege und sie
mit Lebhaftigkeit äußere, vornehmlich für ei¬
nen unerfahrnen Menschen halte.

Da er jedoch ein wackerer, tüchtiger Mann
war, so versicherte er mir, er habe diese Gril¬
len selbst noch nicht ganz aufgegeben, und be¬

II. 15

allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel
nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir
ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff
von Erfahrung war beynah fix in meinem
Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir
ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬
thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬
he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und
war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬
ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von
der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo
bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam
als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß
unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬
tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬
gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie
mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬
nen unerfahrnen Menſchen halte.

Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann
war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬
len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬

II. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0233" n="225"/>
allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel<lb/>
nicht &#x017F;chwer, mich ihm zu na&#x0364;hern, und wir<lb/>
&#x017F;pazirten o&#x0364;fters mit einander. Der Begriff<lb/>
von Erfahrung war beynah fix in meinem<lb/>
Gehirne geworden, und das Bedu&#x0364;rfniß, mir<lb/>
ihn klar zu machen, leiden&#x017F;chaftlich. Offenmu&#x0364;¬<lb/>
thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬<lb/>
he, in der ich mich befand. Er la&#x0364;chelte und<lb/>
war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬<lb/>
ner Fragen, etwas von &#x017F;einem Leben und von<lb/>
der na&#x0364;ch&#x017F;ten Welt u&#x0364;berhaupt zu erza&#x0364;hlen, wo<lb/>
bey freylich zuletzt wenig Be&#x017F;&#x017F;eres herauskam<lb/>
als, daß die Erfahrung uns u&#x0364;berzeuge, daß<lb/>
un&#x017F;ere be&#x017F;ten Gedanken, Wu&#x0364;n&#x017F;che und Ver&#x017F;a&#x0364;¬<lb/>
tze unerreichbar &#x017F;eyen, und daß man denjeni¬<lb/>
gen, welcher dergleichen Grillen hege und &#x017F;ie<lb/>
mit Lebhaftigkeit a&#x0364;ußere, vornehmlich fu&#x0364;r ei¬<lb/>
nen unerfahrnen Men&#x017F;chen halte.</p><lb/>
        <p>Da er jedoch ein wackerer, tu&#x0364;chtiger Mann<lb/>
war, &#x017F;o ver&#x017F;icherte er mir, er habe die&#x017F;e Gril¬<lb/>
len &#x017F;elb&#x017F;t noch nicht ganz aufgegeben, und be¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">II. 15<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0233] allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff von Erfahrung war beynah fix in meinem Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬ thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬ he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬ ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬ tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬ gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬ nen unerfahrnen Menſchen halte. Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬ len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬ II. 15

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/233
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/233>, abgerufen am 18.12.2024.