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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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samer, sondern auch mit mancherley Verdruß
umgeben; der Freund war etwas weiter und
die Zwischenfiguren näher gerückt. Die Alte
wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoff¬
nung einer bessern Ansicht; allein das schöne
Kind hielt sich nicht länger, sie brach in un¬
bändiges Weinen aus, ihr holder Busen be¬
wegte sich auf eine gewaltsame Weise, sie
wandte sich um und rannte zum Zimmer hin¬
aus. Ich wußte nicht was ich thun sollte.
Die Neigung hielt mich bey der Gegenwär¬
tigen, das Mitleid trieb mich zu jener;
meine Lage war peinlich genug. -- Trösten
Sie Lucinden, sagte die jüngere, gehen Sie
ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich sie
trösten, ohne sie wenigstens einer Art von Nei¬
gung zu versichern, und konnte das wohl
in einem solchen Augenblick auf eine kalte
mäßige Weise! -- Lassen Sie uns zusammen
gehn, sagte ich zu Emilien. -- Ich weiß
nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun
wird, versetzte diese. Doch gingen wir, fan¬

ſamer, ſondern auch mit mancherley Verdruß
umgeben; der Freund war etwas weiter und
die Zwiſchenfiguren naͤher geruͤckt. Die Alte
wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoff¬
nung einer beſſern Anſicht; allein das ſchoͤne
Kind hielt ſich nicht laͤnger, ſie brach in un¬
baͤndiges Weinen aus, ihr holder Buſen be¬
wegte ſich auf eine gewaltſame Weiſe, ſie
wandte ſich um und rannte zum Zimmer hin¬
aus. Ich wußte nicht was ich thun ſollte.
Die Neigung hielt mich bey der Gegenwaͤr¬
tigen, das Mitleid trieb mich zu jener;
meine Lage war peinlich genug. — Troͤſten
Sie Lucinden, ſagte die juͤngere, gehen Sie
ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich ſie
troͤſten, ohne ſie wenigſtens einer Art von Nei¬
gung zu verſichern, und konnte das wohl
in einem ſolchen Augenblick auf eine kalte
maͤßige Weiſe! — Laſſen Sie uns zuſammen
gehn, ſagte ich zu Emilien. — Ich weiß
nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun
wird, verſetzte dieſe. Doch gingen wir, fan¬

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[434/0442] ſamer, ſondern auch mit mancherley Verdruß umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwiſchenfiguren naͤher geruͤckt. Die Alte wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoff¬ nung einer beſſern Anſicht; allein das ſchoͤne Kind hielt ſich nicht laͤnger, ſie brach in un¬ baͤndiges Weinen aus, ihr holder Buſen be¬ wegte ſich auf eine gewaltſame Weiſe, ſie wandte ſich um und rannte zum Zimmer hin¬ aus. Ich wußte nicht was ich thun ſollte. Die Neigung hielt mich bey der Gegenwaͤr¬ tigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. — Troͤſten Sie Lucinden, ſagte die juͤngere, gehen Sie ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich ſie troͤſten, ohne ſie wenigſtens einer Art von Nei¬ gung zu verſichern, und konnte das wohl in einem ſolchen Augenblick auf eine kalte maͤßige Weiſe! — Laſſen Sie uns zuſammen gehn, ſagte ich zu Emilien. — Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun wird, verſetzte dieſe. Doch gingen wir, fan¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/442>, abgerufen am 23.11.2024.