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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Ich ward mit der Poesie von einer ganz
andern Seite, in einem andern Sinne be¬
kannt als bisher, und zwar in einem solchen,
der mir sehr zusagte. Die hebräische Dicht¬
kunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth
geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren
Ueberlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns
antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie, ga¬
ben das Zeugniß, daß die Dichtkunst über¬
haupt eine Welt- und Völkergabe sey, nicht
ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten
Männer. Ich verschlang das alles, und je
heftiger ich im Empfangen, desto freygebiger
war er im Geben, und wir brachten die in¬
teressantesten Stunden zusammen zu. Meine
übrigen angefangenen Naturstudien suchte ich
fortzusetzen, und da man immer Zeit genug
hat, wenn man sie gut anwenden will; so
gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬
fache. Was die Fülle dieser wenigen Wochen
betrifft, welche wir zusammen lebten, kann
ich wohl sagen, daß alles, was Herder nach¬

Ich ward mit der Poeſie von einer ganz
andern Seite, in einem andern Sinne be¬
kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen,
der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬
kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth
geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren
Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns
antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬
ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬
haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht
ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten
Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je
heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger
war er im Geben, und wir brachten die in¬
tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine
uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich
fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug
hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo
gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬
fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen
betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann
ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬

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[475/0483] Ich ward mit der Poeſie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne be¬ kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen, der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬ kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬ ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬ haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger war er im Geben, und wir brachten die in¬ tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬ fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/483>, abgerufen am 22.11.2024.