Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

gesprochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬
mal, so oft sie kam oder ging, aber Fried¬
ricke ließ sich zuerst mit mir in ein Gespräch
ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬
nahm und durchsah, fragte sie, ob ich auch
spiele. Als ich es bejahte, ersuchte sie mich
etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich
nicht dazu kommen: denn er behauptete, es
sey schicklich, dem Gaste zuerst mit irgend ei¬
nem Musikstück oder einem Liede zu dienen.

Sie spielte verschiedenes mit einiger Fer¬
tigkeit, in der Art, wie man es auf dem
Lande zu hören pflegt, und zwar auf einem
Clavier, das der Schulmeister schon längst
hätte stimmen sollen, wenn er Zeit gehabt
hätte. Nun sollte sie auch ein Lied singen,
ein gewisses zärtlich-trauriges; das gelang
ihr nun gar nicht. Sie stand auf und sagte
lächelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem
Gesicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer

geſprochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬
mal, ſo oft ſie kam oder ging, aber Fried¬
ricke ließ ſich zuerſt mit mir in ein Geſpraͤch
ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬
nahm und durchſah, fragte ſie, ob ich auch
ſpiele. Als ich es bejahte, erſuchte ſie mich
etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich
nicht dazu kommen: denn er behauptete, es
ſey ſchicklich, dem Gaſte zuerſt mit irgend ei¬
nem Muſikſtuͤck oder einem Liede zu dienen.

Sie ſpielte verſchiedenes mit einiger Fer¬
tigkeit, in der Art, wie man es auf dem
Lande zu hoͤren pflegt, und zwar auf einem
Clavier, das der Schulmeiſter ſchon laͤngſt
haͤtte ſtimmen ſollen, wenn er Zeit gehabt
haͤtte. Nun ſollte ſie auch ein Lied ſingen,
ein gewiſſes zaͤrtlich-trauriges; das gelang
ihr nun gar nicht. Sie ſtand auf und ſagte
laͤchelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem
Geſicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0545" n="537"/>
ge&#x017F;prochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬<lb/>
mal, &#x017F;o oft &#x017F;ie kam oder ging, aber Fried¬<lb/>
ricke ließ &#x017F;ich zuer&#x017F;t mit mir in ein Ge&#x017F;pra&#x0364;ch<lb/>
ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬<lb/>
nahm und durch&#x017F;ah, fragte &#x017F;ie, ob ich auch<lb/>
&#x017F;piele. Als ich es bejahte, er&#x017F;uchte &#x017F;ie mich<lb/>
etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich<lb/>
nicht dazu kommen: denn er behauptete, es<lb/>
&#x017F;ey &#x017F;chicklich, dem Ga&#x017F;te zuer&#x017F;t mit irgend ei¬<lb/>
nem Mu&#x017F;ik&#x017F;tu&#x0364;ck oder einem Liede zu dienen.</p><lb/>
        <p>Sie &#x017F;pielte ver&#x017F;chiedenes mit einiger Fer¬<lb/>
tigkeit, in der Art, wie man es auf dem<lb/>
Lande zu ho&#x0364;ren pflegt, und zwar auf einem<lb/>
Clavier, das der Schulmei&#x017F;ter &#x017F;chon la&#x0364;ng&#x017F;t<lb/>
ha&#x0364;tte &#x017F;timmen &#x017F;ollen, wenn er Zeit gehabt<lb/>
ha&#x0364;tte. Nun &#x017F;ollte &#x017F;ie auch ein Lied &#x017F;ingen,<lb/>
ein gewi&#x017F;&#x017F;es za&#x0364;rtlich-trauriges; das gelang<lb/>
ihr nun gar nicht. Sie &#x017F;tand auf und &#x017F;agte<lb/>
la&#x0364;chelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem<lb/>
Ge&#x017F;icht immerfort ruhenden Zuge von heiterer<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[537/0545] geſprochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬ mal, ſo oft ſie kam oder ging, aber Fried¬ ricke ließ ſich zuerſt mit mir in ein Geſpraͤch ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬ nahm und durchſah, fragte ſie, ob ich auch ſpiele. Als ich es bejahte, erſuchte ſie mich etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich nicht dazu kommen: denn er behauptete, es ſey ſchicklich, dem Gaſte zuerſt mit irgend ei¬ nem Muſikſtuͤck oder einem Liede zu dienen. Sie ſpielte verſchiedenes mit einiger Fer¬ tigkeit, in der Art, wie man es auf dem Lande zu hoͤren pflegt, und zwar auf einem Clavier, das der Schulmeiſter ſchon laͤngſt haͤtte ſtimmen ſollen, wenn er Zeit gehabt haͤtte. Nun ſollte ſie auch ein Lied ſingen, ein gewiſſes zaͤrtlich-trauriges; das gelang ihr nun gar nicht. Sie ſtand auf und ſagte laͤchelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem Geſicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/545
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/545>, abgerufen am 23.11.2024.