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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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und wie mir meine alten Mauern und Thür¬
me nach und nach verleideten, so misfiel mir
auch die Verfassung der Stadt, alles was
mir sonst so ehrwürdig vorkam, erschien mir
in verschobenen Bildern. Als Enkel des
Schultheißen waren mir die heimlichen Ge¬
brechen einer solchen Republik nicht unbekannt
geblieben, um so weniger, als Kinder ein
ganz eignes Erstaunen fühlen und zu emsigen
Untersuchungen angereizt werden, sobald ihnen
etwas, das sie bisher unbedingt verehrt, eini¬
germaßen verdächtig wird. Der vergebliche
Verdruß rechtschaffener Männer im Wider¬
streit mit solchen, die von Parteyen zu gewin¬
nen, wohl gar zu bestechen sind, war mir nur
zu deutlich geworden, ich haßte jede Unge¬
rechtigkeit über die Maßen: denn die Kinder
sind alle moralische Rigoristen. Mein Vater,
in die Angelegenheiten der Stadt nur als
Privatmann verflochten, äußerte sich im Ver¬
druß über manches Mislungene sehr lebhaft.
Und sah ich ihn nicht, nach so viel Studien.

und wie mir meine alten Mauern und Thuͤr¬
me nach und nach verleideten, ſo misfiel mir
auch die Verfaſſung der Stadt, alles was
mir ſonſt ſo ehrwuͤrdig vorkam, erſchien mir
in verſchobenen Bildern. Als Enkel des
Schultheißen waren mir die heimlichen Ge¬
brechen einer ſolchen Republik nicht unbekannt
geblieben, um ſo weniger, als Kinder ein
ganz eignes Erſtaunen fuͤhlen und zu emſigen
Unterſuchungen angereizt werden, ſobald ihnen
etwas, das ſie bisher unbedingt verehrt, eini¬
germaßen verdaͤchtig wird. Der vergebliche
Verdruß rechtſchaffener Maͤnner im Wider¬
ſtreit mit ſolchen, die von Parteyen zu gewin¬
nen, wohl gar zu beſtechen ſind, war mir nur
zu deutlich geworden, ich haßte jede Unge¬
rechtigkeit uͤber die Maßen: denn die Kinder
ſind alle moraliſche Rigoriſten. Mein Vater,
in die Angelegenheiten der Stadt nur als
Privatmann verflochten, aͤußerte ſich im Ver¬
druß uͤber manches Mislungene ſehr lebhaft.
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[59/0067] und wie mir meine alten Mauern und Thuͤr¬ me nach und nach verleideten, ſo misfiel mir auch die Verfaſſung der Stadt, alles was mir ſonſt ſo ehrwuͤrdig vorkam, erſchien mir in verſchobenen Bildern. Als Enkel des Schultheißen waren mir die heimlichen Ge¬ brechen einer ſolchen Republik nicht unbekannt geblieben, um ſo weniger, als Kinder ein ganz eignes Erſtaunen fuͤhlen und zu emſigen Unterſuchungen angereizt werden, ſobald ihnen etwas, das ſie bisher unbedingt verehrt, eini¬ germaßen verdaͤchtig wird. Der vergebliche Verdruß rechtſchaffener Maͤnner im Wider¬ ſtreit mit ſolchen, die von Parteyen zu gewin¬ nen, wohl gar zu beſtechen ſind, war mir nur zu deutlich geworden, ich haßte jede Unge¬ rechtigkeit uͤber die Maßen: denn die Kinder ſind alle moraliſche Rigoriſten. Mein Vater, in die Angelegenheiten der Stadt nur als Privatmann verflochten, aͤußerte ſich im Ver¬ druß uͤber manches Mislungene ſehr lebhaft. Und ſah ich ihn nicht, nach ſo viel Studien.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/67>, abgerufen am 26.05.2024.