Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Erfahren, Thun und Dichten uns nur desto
lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen.

So waren wir denn an der Grenze von
Frankreich alles französischen Wesens auf ein¬
mal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden
wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dich¬
tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬
losophie abstrus und doch unzulänglich, so
daß wir auf dem Puncte standen, uns der
rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzu¬
geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß
schon seit langer Zeit zu höheren, freyeren
und eben so wahren als dichterischen Weltan¬
sichten und Geistesgenüssen vorbereitet und
uns erst heimlich und mäßig, dann aber im¬
mer offenbarer und gewaltiger beherrscht hätte.

Ich brauche kaum zu sagen, daß hier
Shakspeare gemeynt sey, und nachdem ich
dieses ausgesprochen, bedarf es keiner weitern
Ausführung. Shakspeare ist von den Deut¬

Erfahren, Thun und Dichten uns nur deſto
lebhafter und leidenſchaftlicher hinwarfen.

So waren wir denn an der Grenze von
Frankreich alles franzoͤſiſchen Weſens auf ein¬
mal bar und ledig. Ihre Lebensweiſe fanden
wir zu beſtimmt und zu vornehm, ihre Dich¬
tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬
loſophie abſtrus und doch unzulaͤnglich, ſo
daß wir auf dem Puncte ſtanden, uns der
rohen Natur wenigſtens verſuchsweiſe hinzu¬
geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß
ſchon ſeit langer Zeit zu hoͤheren, freyeren
und eben ſo wahren als dichteriſchen Weltan¬
ſichten und Geiſtesgenuͤſſen vorbereitet und
uns erſt heimlich und maͤßig, dann aber im¬
mer offenbarer und gewaltiger beherrſcht haͤtte.

Ich brauche kaum zu ſagen, daß hier
Shakspeare gemeynt ſey, und nachdem ich
dieſes ausgeſprochen, bedarf es keiner weitern
Ausfuͤhrung. Shakspeare iſt von den Deut¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0116" n="108"/>
Erfahren, Thun und Dichten uns nur de&#x017F;to<lb/>
lebhafter und leiden&#x017F;chaftlicher hinwarfen.</p><lb/>
        <p>So waren wir denn an der Grenze von<lb/>
Frankreich alles franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen We&#x017F;ens auf ein¬<lb/>
mal bar und ledig. Ihre Lebenswei&#x017F;e fanden<lb/>
wir zu be&#x017F;timmt und zu vornehm, ihre Dich¬<lb/>
tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬<lb/>
lo&#x017F;ophie ab&#x017F;trus und doch unzula&#x0364;nglich, &#x017F;o<lb/>
daß wir auf dem Puncte &#x017F;tanden, uns der<lb/>
rohen Natur wenig&#x017F;tens ver&#x017F;uchswei&#x017F;e hinzu¬<lb/>
geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;eit langer Zeit zu ho&#x0364;heren, freyeren<lb/>
und eben &#x017F;o wahren als dichteri&#x017F;chen Weltan¬<lb/>
&#x017F;ichten und Gei&#x017F;tesgenu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en vorbereitet und<lb/>
uns er&#x017F;t heimlich und ma&#x0364;ßig, dann aber im¬<lb/>
mer offenbarer und gewaltiger beherr&#x017F;cht ha&#x0364;tte.</p><lb/>
        <p>Ich brauche kaum zu &#x017F;agen, daß hier<lb/><hi rendition="#g">Shakspeare</hi> gemeynt &#x017F;ey, und nachdem ich<lb/>
die&#x017F;es ausge&#x017F;prochen, bedarf es keiner weitern<lb/>
Ausfu&#x0364;hrung. Shakspeare i&#x017F;t von den Deut¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0116] Erfahren, Thun und Dichten uns nur deſto lebhafter und leidenſchaftlicher hinwarfen. So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles franzoͤſiſchen Weſens auf ein¬ mal bar und ledig. Ihre Lebensweiſe fanden wir zu beſtimmt und zu vornehm, ihre Dich¬ tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬ loſophie abſtrus und doch unzulaͤnglich, ſo daß wir auf dem Puncte ſtanden, uns der rohen Natur wenigſtens verſuchsweiſe hinzu¬ geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß ſchon ſeit langer Zeit zu hoͤheren, freyeren und eben ſo wahren als dichteriſchen Weltan¬ ſichten und Geiſtesgenuͤſſen vorbereitet und uns erſt heimlich und maͤßig, dann aber im¬ mer offenbarer und gewaltiger beherrſcht haͤtte. Ich brauche kaum zu ſagen, daß hier Shakspeare gemeynt ſey, und nachdem ich dieſes ausgeſprochen, bedarf es keiner weitern Ausfuͤhrung. Shakspeare iſt von den Deut¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/116
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/116>, abgerufen am 23.11.2024.