jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbniß ausgesetzt: wie denn überhaupt keine Ueber¬ lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben, und wenn sie auch rein gegeben würde, in der Folge jederzeit vollkommen verständlich seyn könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der Or¬ gane, durch welche überliefert wird, dieses wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen; wes¬ halb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden.
Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sey daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬ len Dingen zu erwägen, wie sie sich zu un¬ serm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was auf uns unwirksam, oder einem Zweifel un¬ terworfen sey, habe man der Critik zu über¬
jedoch der Verſchlimmerung, dem Verderbniß ausgeſetzt: wie denn uͤberhaupt keine Ueber¬ lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben, und wenn ſie auch rein gegeben wuͤrde, in der Folge jederzeit vollkommen verſtaͤndlich ſeyn koͤnnte, jenes wegen Unzulaͤnglichkeit der Or¬ gane, durch welche uͤberliefert wird, dieſes wegen des Unterſchieds der Zeiten, der Orte, beſonders aber wegen der Verſchiedenheit menſchlicher Faͤhigkeiten und Denkweiſen; wes¬ halb denn ja auch die Ausleger ſich niemals vergleichen werden.
Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns beſonders zuſagt, zu erforſchen, ſey daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬ len Dingen zu erwaͤgen, wie ſie ſich zu un¬ ſerm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unſrige erregt und befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was auf uns unwirkſam, oder einem Zweifel un¬ terworfen ſey, habe man der Critik zu uͤber¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0161"n="153"/>
jedoch der Verſchlimmerung, dem Verderbniß<lb/>
ausgeſetzt: wie denn uͤberhaupt keine Ueber¬<lb/>
lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben,<lb/>
und wenn ſie auch rein gegeben wuͤrde, in der<lb/>
Folge jederzeit vollkommen verſtaͤndlich ſeyn<lb/>
koͤnnte, jenes wegen Unzulaͤnglichkeit der Or¬<lb/>
gane, durch welche uͤberliefert wird, dieſes<lb/>
wegen des Unterſchieds der Zeiten, der Orte,<lb/>
beſonders aber wegen der Verſchiedenheit<lb/>
menſchlicher Faͤhigkeiten und Denkweiſen; wes¬<lb/>
halb denn ja auch die Ausleger ſich niemals<lb/>
vergleichen werden.</p><lb/><p>Das Innere, Eigentliche einer Schrift,<lb/>
die uns beſonders zuſagt, zu erforſchen, ſey<lb/>
daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬<lb/>
len Dingen zu erwaͤgen, wie ſie ſich zu un¬<lb/>ſerm eignen Innern verhalte, und in wie fern<lb/>
durch jene Lebenskraft die unſrige erregt und<lb/>
befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was<lb/>
auf uns unwirkſam, oder einem Zweifel un¬<lb/>
terworfen ſey, habe man der Critik zu uͤber¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[153/0161]
jedoch der Verſchlimmerung, dem Verderbniß
ausgeſetzt: wie denn uͤberhaupt keine Ueber¬
lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben,
und wenn ſie auch rein gegeben wuͤrde, in der
Folge jederzeit vollkommen verſtaͤndlich ſeyn
koͤnnte, jenes wegen Unzulaͤnglichkeit der Or¬
gane, durch welche uͤberliefert wird, dieſes
wegen des Unterſchieds der Zeiten, der Orte,
beſonders aber wegen der Verſchiedenheit
menſchlicher Faͤhigkeiten und Denkweiſen; wes¬
halb denn ja auch die Ausleger ſich niemals
vergleichen werden.
Das Innere, Eigentliche einer Schrift,
die uns beſonders zuſagt, zu erforſchen, ſey
daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬
len Dingen zu erwaͤgen, wie ſie ſich zu un¬
ſerm eignen Innern verhalte, und in wie fern
durch jene Lebenskraft die unſrige erregt und
befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was
auf uns unwirkſam, oder einem Zweifel un¬
terworfen ſey, habe man der Critik zu uͤber¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/161>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.