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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Socratischen Denkwürdigkeiten er¬
regten Aufsehen, und waren solchen Personen
besonders lieb, die sich mit dem blendenden
Zeitgeiste nicht vertragen konnten. Man ahn¬
dete hier einen tiefdenkenden gründlichen Mann,
der mit der offenbaren Welt und Literatur
genau bekannt, doch auch noch etwas Gehei¬
mes, Unerforschliches gelten ließ, und sich dar¬
über auf eine ganz eigne Weise aussprach.
Von denen die damals die Literatur des Tags
beherrschten, ward er freylich für einen ab¬
strusen Schwärmer gehalten, eine aufstrebende
Jugend aber ließ sich wohl von ihm anziehn.
Sogar die Stillen im Lande, wie sie halb im
Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jene
frommen Seelen, welche, ohne sich zu irgend
einer Gesellschaft zu bekennen, eine unsicht¬
bare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Auf¬
merksamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht
weniger ihrem Freunde Moser, war der Ma¬
gus aus Norden
eine willkommene Er¬
scheinung. Man setzte sich um so mehr mit

Socratiſchen Denkwuͤrdigkeiten er¬
regten Aufſehen, und waren ſolchen Perſonen
beſonders lieb, die ſich mit dem blendenden
Zeitgeiſte nicht vertragen konnten. Man ahn¬
dete hier einen tiefdenkenden gruͤndlichen Mann,
der mit der offenbaren Welt und Literatur
genau bekannt, doch auch noch etwas Gehei¬
mes, Unerforſchliches gelten ließ, und ſich dar¬
uͤber auf eine ganz eigne Weiſe ausſprach.
Von denen die damals die Literatur des Tags
beherrſchten, ward er freylich fuͤr einen ab¬
ſtruſen Schwaͤrmer gehalten, eine aufſtrebende
Jugend aber ließ ſich wohl von ihm anziehn.
Sogar die Stillen im Lande, wie ſie halb im
Scherz, halb im Ernſt genannt wurden, jene
frommen Seelen, welche, ohne ſich zu irgend
einer Geſellſchaft zu bekennen, eine unſicht¬
bare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Auf¬
merkſamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht
weniger ihrem Freunde Moſer, war der Ma¬
gus aus Norden
eine willkommene Er¬
ſcheinung. Man ſetzte ſich um ſo mehr mit

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[160/0168] Socratiſchen Denkwuͤrdigkeiten er¬ regten Aufſehen, und waren ſolchen Perſonen beſonders lieb, die ſich mit dem blendenden Zeitgeiſte nicht vertragen konnten. Man ahn¬ dete hier einen tiefdenkenden gruͤndlichen Mann, der mit der offenbaren Welt und Literatur genau bekannt, doch auch noch etwas Gehei¬ mes, Unerforſchliches gelten ließ, und ſich dar¬ uͤber auf eine ganz eigne Weiſe ausſprach. Von denen die damals die Literatur des Tags beherrſchten, ward er freylich fuͤr einen ab¬ ſtruſen Schwaͤrmer gehalten, eine aufſtrebende Jugend aber ließ ſich wohl von ihm anziehn. Sogar die Stillen im Lande, wie ſie halb im Scherz, halb im Ernſt genannt wurden, jene frommen Seelen, welche, ohne ſich zu irgend einer Geſellſchaft zu bekennen, eine unſicht¬ bare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Auf¬ merkſamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht weniger ihrem Freunde Moſer, war der Ma¬ gus aus Norden eine willkommene Er¬ ſcheinung. Man ſetzte ſich um ſo mehr mit

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/168>, abgerufen am 25.11.2024.